Seite wählen

amadefries

6. Juni 2018

Sanfter Riese

Cadillac | 0 Kommentare

„Da haben sie ja gleich den grössten Spross der Cadillac-Familie zum Testen ausgewählt“, meint ein relaxter René Kreis als er mir die Schlüssel für den Fullsize-SUV übergibt. Als Head of Public Relations, Cadillac & Chevrolet Performance Cars weiss er natürlich, dass es sogar noch ein bisschen grösser ginge. Tatsächlich folgt der Nachsatz „auf den nochmals […]

„Da haben sie ja gleich den grössten Spross der Cadillac-Familie zum Testen ausgewählt“, meint ein relaxter René Kreis als er mir die Schlüssel für den Fullsize-SUV übergibt. Als Head of Public Relations, Cadillac & Chevrolet Performance Cars weiss er natürlich, dass es sogar noch ein bisschen grösser ginge. Tatsächlich folgt der Nachsatz „auf den nochmals 50 Zentimeter längeren ESV entfallen in der Schweiz immerhin ein Drittel der Escalade-Verkäufe“.

Etwas ungelenk bewege ich den Escalade aus der Garage. Schliesslich gilt es, den dunklen Riesen-SUV in tadellosem Zustand wieder zurück ins GM- Hauptquartier zu bringen. Gleich geht es auf die Autobahn. Ohne den V8 aus der Reserve zu locken, beschleunige ich auf das Tempo meiner Mitverkehrsteilnehmer. Im Gegensatz zu den USA, wo man sich in einem VW Golf fühlt wie ein Zwerg, spüre ich hier, dass ich in einem wirklich grossen Auto sitze. Tatsächlich ist die linke Spur in Baustellenbereichen Tabu: Der Escalade ist satte 2,06 Meter breit. In seiner „normalen“ Ausführung bringt er es auf eine Länge von 5,2 Meter.

front

Als sich der Verkehr etwas lichtet, bietet sich die Möglichkeit, einen kleinen Teil der Annehmlichkeiten an Bord zu betrachten. Da ist zum Beispiel ein knackscharfes HeadUp-Display verbaut, das neben Geschwindigkeit und Navihinweisen auch andere Informationen in Farbe einblenden kann. Zwischen mir und dem scheinbar meilenweit entfernten Beifahrersitz macht sich in einem grossen Fach ein echter kleiner Kühlschrank breit. Zudem gibt es natürlich einen grossen Touchscreen, der unzählige Einstellungen erlaubt. Bei Cadillac nennt man es CUE (Cadillac User Experience).

CUE ist sehr intuitiv zu bedienen. Der Touchscreen wird mit Tasten ergänzt, die bei Berührung ein haptisches Feedback abgeben. Man findet sich schnell zurecht. Dass man während der Fahrt bei der Suche nach Funktionen tendenziell stärker abgelenkt wird als bei den vertrauten Systemen deutscher Premiumhersteller ist bekannt. Dass ein Drehknopf für die Lautstärkeregelung weggelassen wurde, ist eher unpraktisch. Das Regeln per Fingerwischen funktioniert aber nach kurzer Eingewöhnung gut.

sideoffroad

Irgendwie verhält es sich mit dem ganzen Escalade so: Kaum bin ich eine Stunde gefahren, verschwindet die übermässige Vorsicht. Und zum ersten Mal fällt mir auf, wie unglaublich leise er im Innenraum eigentlich ist. Dreifach abgedichtete Türen und spezielles Akustikglas verfehlen ihre Wirkung also nicht.

Kurz vor Luzern dann ein Erlebnis der speziellen Art. Ein rostroter Saab 900 setzt zum Überholen an. Auf gleicher Höhe verlangsamt er wieder, ich schaue nach links. Im Schwedenklassiker sitzen vier Hippies, so als wären sie direkt von Woodstock auf die A2 gehüpft. Ich warte nur, bis ich der Stinkefingerparade entgegenblicke. Doch weit gefehlt: Obwohl der riesige Ami auf manch ökologisch denkende Menschen so provokativ wirken muss wie ein leckender Öltanker im Great Barrier Reef, Aggressionen bleiben aus. Ja, sie recken mir sogar ihre Daumen entgegen. Der Escalade hat durchaus auch Freunde. Und je länger ich ihn fahre, werde ich selbst einer von ihnen.

tiefgarage

Und weil ich den Koloss mag, habe ich gar keine grosse Lust, den Corvette-Motor unter der riesigen Haube zu kicken. 426 PS leistet der 6,2-Liter, der inzwischen zwar über Direkteinspritzung verfügt, aber immer noch mit einer Nockenwelle auskommen muss. Als ich bei einem Ampelstart dann doch einmal richtig drauftrete, hebt sich der Vorderwagen majestätisch am, um unter bestem V8-Sound vorwärts zu hämmern, dass noch manch einer staunen dürfte. Tatsächlich beschleunigt der 2,7-Tonner in unter 7 Sekunden auf Tempo 100.

Natürlich kann der Cadillac auch Kurven. Wer aber zu optimistisch reinfährt, kassiert Untersteuern und Reifenwimmern. Wenn man es aber vernünftig angeht, lässt sich der Escalade unter relativ starkem Wanken präzise durch Biegungen leiten. Die riesigen 22-Zoll-Räder (serienmässig in der Platinum-Ausstattung des Testwagens) zeigen sich zum Glück völlig immun gegenüber Spurrillen. So steuert man den Ami stets locker und sicher. Sollte man trotzdem einmal etwas unaufmerksam sein, springen diverse Assistenten ein. Das Abstandsradar hält nicht nur die Distanz im Tempomatmodus, sondern warnt auch, wenn man auf ein langsameres Fahrzeug aufzufahren droht.

mirror

Gerade bei voller Besatzung sollte man vorrausschauend fahren. Denn obwohl der Cadillac Escalade durchaus überzeugend verzögert, kann er die schiere Masse nicht verheimlichen. Für den Fahrer bietet er übrigens noch ein praktisches Gimmick, wenn alle 7 Sitze besetzt sein sollten. Damit man dann die Sicht nach hinten trotz versperrtem Innenraum behält, lässt sich im Innenspiegel das Bild der nach hinten gerichteten Kamera einblenden. Sehr praktisch.

Auch die elektrisch ausfahrenden Trittbretter sind sehr praktisch. Das unelegante Entern, wie man es sonst von SUVs dieser Grösse kennt, entfällt komplett. Cadillac treibt die Bequemlichkeit so weit, dass man den Motor per Schlüsselfernbedienung starten kann. Was mir das bringen soll, ist dann doch eher schleierhaft. Dagegen sind die elektrisch auf- und abklappbaren Sitze in der dritten Reihe wieder sehr sinnvoll. Für die Passagiere der hinteren Sitzreihen stehen übrigens nicht weniger als 3 Bildschirme (zwei in den Kopfstützen der ersten Reihe, einer im Dach) zur Unterhaltung zur Verfügung.

rearoffroad

Wer gerne längere Trips unternimmt, dürfte sich über die grosse Reichweite des Escalade freuen. Nach 670 Kilometern leuchtete mir noch immer keine Anzeige für die Tankreserve entgegen. Das liegt nicht daran, dass er ein Kostverächter wäre, sondern schlicht am 98-Liter-Tank. Der längere ESV hat übrigens noch einmal 20 Liter mehr Kapazität. Das Thema Verbrauch ist damit aber noch nicht abgeschlossen. Nippt der US-Riese tatsächlich so unverschämt vom Benzintank, wie man sich das vorstellen würde? Im Test genehmigte er sich 12,5 Liter auf 100 km, was für ein Auto dieser Grösse und mit dieser Motorisierung noch einigermassen ok ist. Und bevor man sich die teure Tankfüllung leisten „darf“, muss der geneigte Käufer ohnehin erst noch den Preis von fast 130’000 Schweizer Franken stemmen.

frontoffroad

Inzwischen kann ich ebendiese geneigten Käufer verstehen. Hat man sich an die Grösse des Cadillac Escalade gewöhnt, ist er ein unglaublich angenehmer Begleiter. Er verwöhnt nicht nur mit enormem Komfort (wie z.B. verschiedenen Massageprogrammen in den Vordersitzen), sondern mit einem ganz eigenen Charme und dem Gefühl, jederzeit Herr der Lage zu sein. Sein Preis geht angesichts des Gebotenen ebenso in Ordnung wie der überraschend humane Verbrauch. Wer sich anstelle einer S-Klasse oder eine 7ers lieber einen erhabenen SUV zulegen möchte, macht mit dem Escalade nichts falsch. Da hilft auch das souveräne Cadillac-Design, das auf verschnörkelte Details verzichtet und im wahrsten Sinne des Wortes Gradlinigkeit walten lässt.