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amadefries

17. August 2018
Es könnte das überflüssigste Feature aller Zeiten sein. Türgriffe, die erst auf Knopfdruck elektrisch ausfahren. Aber es könnte auch ein wunderbarer Aufhänger für einen Text über den neuen Range Rover Velar werden, der in erster Linie schön und irgendwie anders sein will. Also drücke ich den nicht sonderlich hübschen Knopf auf dem Griff und schon […]

Es könnte das überflüssigste Feature aller Zeiten sein. Türgriffe, die erst auf Knopfdruck elektrisch ausfahren. Aber es könnte auch ein wunderbarer Aufhänger für einen Text über den neuen Range Rover Velar werden, der in erster Linie schön und irgendwie anders sein will. Also drücke ich den nicht sonderlich hübschen Knopf auf dem Griff und schon fährt mir der Bügelgriff entgegen. Er ist kein haptisches Highlight, wie man es von einem JLR-Produkt eigentlich erwarten könnte, aber er verleiht dem Velar halt wirklich den Touch des Besonderen.

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Ich steige ein und stelle sofort fest, dass es tatsächlich nur ein Ein- und kein Hochsteigen ist. Der Velar ist flacher als seine Markenbrüder und dementsprechend sitzt man auch tiefer. Es ist diese Eigenschaft, die ihm diese spektakuläre Präsenz verleiht, wenn man ihm im Strassenverkehr begegnet. Wo andere SUV wie rundgelutschte Hochsitze anmuten, kommt der Velar flach und breit daher. Er baut weder auf dem Evoque noch auf dem Sport auf, sondern erhält die Basis des Jaguar F-Pace. Das bedeutet: Unter der Haube ist Platz genug für den längs eingebauten V6 Diesel (und theoretisch auch für den V8 des SVR…). Eine passende Motorisierung für den souverän auftretenden neuen Spross aus der Range Rover Familie.

Am bekannten, effektvoll motorisch ausfahrenden Rotary Gear Selector wähle ich Drive und schon kann es losgehen. Ein Blick in die grossformatigen Spiegel verrät mir, dass die Türgriffe sich nun wieder bündig in der Karosserie verstecken. Und wenn wir schon bei den Elektromotoren sind: Der obere von zwei Touchscreens bringt sich zwecks besserer Ablesbarkeit ebenfalls wie von Zauberhand in Stellung. Die Fahrerhände ruhen derweil auf einem formschönen Lenkrad, das durch zwei Bedienflächen ergänzt wird. Doch wie gesagt: Drive!

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Der Dreiliter-Diesel ist kein brutaler Drehmomentpuncher. Lieber gibt er den souveränen Allzeit-bereit-Brummer und das immer ohne ein überlautes Nageln. Die Leistungsabgabe ist demnach zwar druckvoll, aber nie ruckartig. Auch bei voller Beschleunigung wähnt man sich nie in einem Sportwagen, was auch mit der stets ruhig schaltenden Automatik zu tun hat. Das passt bestens zum typischen Range-Feeling, das trotz deutlich kleineren Fensterflächen und tieferer Sitzposition stellenweise aufzukeimen vermag. In Kurven neigt sich der Velar nicht so stark wie seine grösseren Kollegen aus selbem Hause. Schön, dass er trotz riesigen 22-Zöllern jederzeit ein erstaunliches Mass an Abrollkomfort an den Tag legt. Gleichzeitig lässt er sich über die Lenkung präzise dirigieren, wirkt nie schwammig oder ungenau. So mögen wir das.

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Typisch JLR gibt sich der Innenraum: Viel Leder, schöne Details und eine nicht über alle Zweifel erhabene Bedienung. Im Prinzip gibt es drei Bereiche, in denen Einstellungen vorgenommen werden könne. Der untere Touchscreen befehligt Klima und Fahrmodi, während der obere die Multimediaklaviatur steuert und den Weg weist. Zusätzlich können weitere Funktionen dort abgerufen werden, wo normalerweise der Tacho und der Tourenzähler eingeblendet werden. Und ja, es ist leider in etwa so kompliziert, wie es sich anhört. Wenn man dann noch die nervigen Fingerspuren auf den Screens sieht, wünscht man sich von den Briten schon, dass ihnen da bald etwas Neues einfällt. Überhaupt gibt es viele schön glänzende Flächen, die nur darauf warten, bald von einem Microfasertuch abgewischt zu werden. Vielleicht sollten das die Händler einfach gleich bei der Ablieferung als Goodie abgeben, am besten mit der gleichen schönen Velar-Silhouette, die selbiger auf den Boden projiziert.

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Überhaupt diese Silhouette; Da mühen sich die Deutschen seit dem BMW X6 mit seltsam anmutenden Pseudocoupéformen ab, Range Rover braucht genau einen Anlauf für diese betörend schöne Form. Die Proportionen sind schlicht sensationell gelungen. Wenn es nur um Optik geht, können nicht nur die Germanen, sondern auch Maserati und Lamborghini einpacken. Der schönste SUV kommt definitiv aus England. (Der hässlichste auch, allerdings von Bentley). Allerdings muss sich unser Test-Velar einen Vorwurf gefallen lassen: In kaum einer Farbe kommt seine Form so unscheinbar daher wie in diesem Weisser-als-Hollywood-Zähne-Weiss. Klar hilft das schwarze Dach den typischen Range-Rover-Look zu betonen. Aber in den Farben Kaikoura Stone, Silicon Silver oder Aruba sieht er nochmals deutlich sexier aus. Dann wirkt die Form wie aus einem Guss und auch die praktisch bündig eingepassten Fensterscheiben kommen zur Geltung.

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Und schon sind wir wieder beim Aussehen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass es auch gar nicht so wichtig ist, wie der Velar fährt. Das angesprochene Klientel ist bestimmt viel mehr am schönen Auftritt und feinen Materialien denn am letzten bisschen Fahrdynamik oder Effizienz interessiert. Trotzdem nehmen wir unseren Test-Job natürlich ernst und schauen genau hin, wenn es zur Tankstelle geht. 8,2 Liter Diesel genehmigt sich das 300 PS starke Aggregat. Das sind zwar 1,6 Liter mehr als die Werksangabe, aber immer noch durchaus respektabel. Denn man hat nicht nur satte 700 Newtonmeter unter dem Gaspedal, sondern schleppt auch knapp 2 Tonnen an Gewicht mit. Das maximale Gesamtgewicht liegt bei enormen 2600 kg. Enorm ist auch die Breite von 1,95 Meter, was man bei der Einfahrt ins Parkhaus sofort feststellt.

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Die Einfahrt ins Velar-Territorium kostet mindestens 66’400 Franken, wofür man einen nackten, 180 PS starken Briten erhalten würde. „Würde“, weil kaum eine Schweizer Kundin ein derartiges Mobil bestellen dürfte. Der hier getestete D300 R-Dynamic SE startet zwar bei 95’300 Franken, braucht dann aber noch etwas Zuwendung über die umfangreiche Liste der Optionen. Am Ende kommt der Testwagen auf 109’000 Franken. Dass dann der adaptive Tempomat noch nicht an Bord ist, zeigt schon, dass die Velar-Interessentin besser das grosse Portemonnaie zur Hand nimmt. Da es bekanntlich schon immer etwas teurer war, einen besonders guten Geschmack zu haben, dürfte das nicht schwer fallen. Zumal man mit dem Velar 300D zwar ein modisches Stylestatement kauft, aber eben nicht nur. Er ist auch ein richtig gutes Auto geworden, das abgesehen von der etwas unhandlichen Breite dem Alltag jederzeit gewachsen ist. So schluckt er 5 Personen und deren Gepäck, wobei es auf dem mittleren Platz der zweiten Reihe typischerweise etwas zu eng wird. Mit dem 300-PS-Diesel macht man nichts falsch, da er nicht nur souveräne Fortbewegung, sondern auch sozialverträgliche Verbrauchswerte garantiert. Und hey, lasst uns die elektrisch ausfahrenden Türgriffe nicht vergessen!

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