Seite wählen

zuendung

21. Mai 2012

Lastwagen 16:9

Renault | 0 Kommentare

Selten schon haben wir ein so grosses Stück Glas gegen den Wind gestemmt. Die Frontscheibe des Magnums steht fast senkrecht – und sie ragt bis unter die Kniehöhe des Chauffeurs. Vom Lenkrad aus sieht man die Welt im Kinoformat. Die Rundumsicht des kantigen Trucks ist unerreicht, auch nach über 20 Jahren Bauzeit. Als Lastwagen noch […]

Selten schon haben wir ein so grosses Stück Glas gegen den Wind gestemmt. Die Frontscheibe des Magnums steht fast senkrecht – und sie ragt bis unter die Kniehöhe des Chauffeurs. Vom Lenkrad aus sieht man die Welt im Kinoformat. Die Rundumsicht des kantigen Trucks ist unerreicht, auch nach über 20 Jahren Bauzeit.

Als Lastwagen noch Rauch ausblasen und stinken, die Berliner Mauer noch steht, und Lastwagenfahren eine schweisstreibende Arbeit ist: Renault V. I. (Véhicules Industriels, heute heisst die Volvo-Tochter „Renault Trucks“) löst sich vom traditionellen Gedankengut und entwirft mit dem AE erstmals einen Lastwagen ausschliesslich für den Fernverkehr. Ganz französisch: Die Entwicklung zielt auf maximalen Komfort für den Chauffeur. Damals eine Erscheinung wie von einem anderen Planeten, jeder will hinaufklettern und mal am Steuer Platz nehmen. 1991 wird der Renault AE Magnum Truck of the Year. Der Gewinner vom Vorjahr, der Mercedes-Benz SK, erscheint im Vergleich eine Dekade Jahre älter.

Luxus ist heute selbstverständlich. In den 1980er Jahren sitzt der Chauffer neben dem Motor und ist Vibrationen und Lärm ausgesetzt. Renault hebt die Fahrerkabine so weit über den Motor, dass ein durchgehender Boden entsteht. Wie in einem Wohnraum kann man aufrecht durch die Kabine gehen. Die Luftfederung entkoppelt die Kabine von den Vibrationen. Während der Fahrt wankt sie dadurch bedrohlich bis zu 10cm zur Seite. Ein Aufkleber warnt Aussenstehende davor, nicht in den Wankbereich zwischen Kabine und Radverkleidung zu greifen. Das war neu. 1990 präsentiert Renault somit eine Sensation: Die würfelförmige Kabine scheint wie über der Vorderachse zu schweben. Und der Aufstieg liegt nicht wie gewohnt vor, sondern hinter der Vorderachse. Man steigt also die drei Tritte hoch und schwingt sich dann nach vorn in die Kabine hinein. Die Türe braucht so nicht weit geöffnet zu werden, was zum Beispiel an engen Laderampen sehr praktisch ist.

Hat man sich erst auf den luftgefederten Sitz geschwungen, wähnt man sich in einem Controltower hoch über der Piste. Die Sicht ist überwältigend, andere Verkehrsteilnehmer beobachtet man gelassen von oben herab. Vor einem ragt ein kleines Kästchen empor, das Drehzahlmesser und Tacho birgt. Das Lenkrad ist griffgünstig und kaum grösser als das eines zeitgenössischen Clios. Überraschend direkt lässt sich der acht Tonnen schwere Schlepper lenken. Fast schon sportlich möchte man Kurven anfahren, wäre da nicht die enorme Seitenneigung der Kabine. Beim Bremsen verneigt sich die Kabine geradezu nach vorn. Das ist gewöhnungsbedürftig, bringt aber lastwagenuntypischen Komfort mit sich. Strassenunebenheiten filtert die aufwändige Magnum-Aufhängung einfach weg. So stellt man sich einen fliegenden Teppich vor.

Fliegen traut man der beinahe 20-jährigen Zugmaschine ohne weiteres zu, bei 89 km/h ist sie jedoch elektronisch abgeriegelt. 440 PS drücken einen angenehm in den Sitz und haben mit den acht Tonnen Leergewicht ein leichtes Spiel. Federleicht rasten die 16 Gänge ein. Ab 1000 Umdrehungen ist der – übrigens originale – Renault Dieselmotor willig und verlangt bald den nächsten Gang. Souverän motorisiert lehrt man so auch Fahrern von Personenwagen das Fürchten.
Innendrin nimmt einen die Maschine mit in eine Zeit, in der klare Formen angesagt waren. Vierecke und gerade Linien beherrschen das Magnum-Cockpit. Es wirkt aufgeräumt und klar – und war damals wohl das erste konsequent durchgestylte Lastwageninnere überhaupt. Kein Schalter scheint dem Zufall überlassen. Der Kippschalter für die Klimaanlage ist abgewinkelt und folgt damit der strengen Winkelform des Armaturenbretts. Man spürt es, die Renault-Macher wollten mit dem Magnum direkt in die Zukunft. 1998 fällt der charakterstarke Innenraum leider einer Überarbeitung zum Opfer und sieht seinen Konkurenten seither zum Verwechseln ähnlich.

Aussen aber ist er der Alte geblieben und darf seine Ecken und Kanten nach wie vor in den Wind stemmen. Es heisst jedoch, nach über 20 Jahren Bauzeit sei 2012 das letzte Baujahr. Eigentlich schade, wir werden ihn vermissen. Er war übrigens der erste Lastwagen, dessen Chassis serienmässig in eine windschlüpfrige Verkleidung gehüllt war.
Im Tunnel entdecken wir den Sechszylinder als starke Bassstimme, die dumpf vor sich hin donnert und unter Vollast den Turbolader pfeifen lässt. Das Fahrerfenster bleibt natürlich eine Hand breit offen. Es breitet sich dieses unheimlich gute Gefühl aus, es ist als ob man alles im Griff hätte, man mit Kraft und Grösse verschmilzt. Man möchte im Magnum um die ganze Welt gleiten.

Unser Testwagen ist einer der wenigen Überlebenden der ersten Generation. Er darf mit 747000km sein Gnadenbrot bei der Garage Weisskopf in Urdorf verdienen, wo er hie und da Auflieger zum Strassenverkehrsamt zieht.