Seite wählen

zuendung

21. November 2005

Der Wolf unter den Gölfen?

VW | 0 Kommentare

Ich geb's zu, ich bin vorbelastet. Im alten R32 habe ich über 40'000 Kilometer abgespult. Ich habe seinen starken Motor und die geniale Schaltung schätzen gelernt. Aber das schönste waren die kleinen Fehler. Fehler? Bei einem Golf? Ganz recht. Die Sitze rissen beim Klappen jeweils die Sonnenblende aus der Verankerung, die Kofferraumklappe war schräg eingepasst, […]

Ich geb's zu, ich bin vorbelastet. Im alten R32 habe ich über 40'000 Kilometer abgespult. Ich habe seinen starken Motor und die geniale Schaltung schätzen gelernt. Aber das schönste waren die kleinen Fehler. Fehler? Bei einem Golf? Ganz recht. Die Sitze rissen beim Klappen jeweils die Sonnenblende aus der Verankerung, die Kofferraumklappe war schräg eingepasst, das Lenkrad war zu dick, das Fahrwerk war bretthart, die Sitze waren genauso hart und das ESP regelte in engen 180°-Kehren die ganze Leistung weg. So wurde die elektronische Stabilitätskontrolle für Passfahrten öfters mal deaktiviert. Dann schob der Powergolf dafür vehement über die vorderen Räder. Und laut war dieses Auto! All diese kleinen Schwächen machten den R32 zu mehr als einem Golf. Der Kleinserienkompakte hatte, was den meisten Wolfsburgern abgeht: Charakter.

All das scheint mit der fünften Generation des Golf wohl vorbei zu sein. Der neue R32 schaut schon von aussen irgendwie seriös aus. Die Front trägt zwar den neuen VW-Grill, sieht aber mehr nach Jetta als nach Kurvenwetzer aus. Anstelle des "Maschengeflechts" im unteren Stossfängerbereich traten dröge horizontale Gitterstäbe. Von vorn wird der R32 vom GTi um Längen geschlagen, vom Vorgänger sowieso. Die Seitenansicht ist geprägt von den nicht unbedingt schönen neuen Alurädern. Das ist allerdings Geschmackssache. Hinten sitzen die Auspuffrohre jetzt näher beieinander mittig angeordnet. Warum der Stossfänger im unteren Bereich nicht in Wagenfarbe lackiert ist? Keine Ahnung. Immerhin sind die Rückleuchten abgedunkelt, was allerdings den meisten Betrachtern nicht auffallen wird.

Was aussen begann wird innen fortgesetzt. Dass die Sitze nicht mehr sonnenblendenzerstörend wirken, hat allerdings einen anderen Grund: Unser Golf V R32 ist ein Fünftürer. Vom alten gab's nur wenige Exemplare, die mit den zwei zusätzlichen Pforten ausgeliefert worden. Weiter handelt es sich um die Seriensitze und nicht um die für über 2500.- CHF erhältlichen Sportsitze. Doch so spiessig "Seriensitze" klingt, so bequem und empfehlenswert sind sie im neuen R32. Die Funktionalität der Climatronic-Drehregler ist ja aus dem Alfa Modellprogramm bereits bestens bekannt. Schön, dass heute die Deutschen schon von den Italienern kopieren. Wir drücken ein Auge zu, weil die Lösung auch ergonomisch zu überzeugen weiss. Und noch etwas wurde aus Italien importiert: Das Licht darf an bleiben, es wird erst durch das Entfernen des Zündschlüssels gelöscht, also kein nerviges Piepen mehr. Grazie Italia.

Auch das neue Dreispeichenlenkrad passt genau, sein Kranz ist nicht mehr zu dick. Schon beim Drehen des Zündschlüssels (ja, das gibt es noch!) werden die Erinnerungen an den wilden Vorgänger wach. Kein Wunder, der Motor wurde lediglich 9 PS stärker, ist aber grundsätzlich unverändert übernommen worden. Der VR6, der seit Längerem nur noch V6 heissen darf aber immer noch einen Gabelwinkel von 15° aufweist, hat hier 250 PS. Also, der Motor klingt immer noch gleich, durch das leicht geänderte Auspuffklappensystem von aussen noch etwas böser, innen eher etwas leiser. Zum Glück auch noch da: Die Rennstartfunktion. ESP aus, DSG auf Sport, linker Fuss auf die Bremse, rechter Fuss aufs Gas – der Motor wird bei 3000 Umdrehungen gehalten, bis man den Fuss von der Bremse nimmt. Dann beisst der V6 so richtig zu, wenn man auch das Gefühl hat, die Fuhre sei im Vergleich zum alten R32 etwas langsamer unterwegs.

Das kann aber auch am noch feiner arbeitenden DSG liegen, das noch immer jederzeit am Lenkrad manuell geschaltet werden kann. Nur hat man auf die bildschönen und herrlich anzufassenden Alupaddel verzichtet, sie sind schlichten Kunststoffwippen gewichen. Ebenfalls weg ist die manuelle Schaltgasse des Getriebewählhebels, dabei habe ich so gerne dort runtergeschaltet. Anyway, auf das Fahren selbst hat das natürlich keinen nachhaltigen Einfluss. Das funktioniert mit dem neuen R32 nahe der Perfektion. Das Fahrwerk ist weicher und doch sportlicher geworden, für Langstrecken müssen nun keine Masochisten mehr an Bord sein. Auch die Frontlastigkeit wurde dem Fünfer ausgetrieben, auch mit ausgeschaltetem ESP bleibt der Golf sehr lange neutral. Lenkung und Bremsen lassen sich noch etwas präziser dosieren. Einzig die hohe Gürtellinie und die hoch angesetzte Frontscheibe schaden der Übersichtlichkeit und könnten bei schnellen Passfahrten eher hinderlich sein, weil die Scheitelpunkte nicht mehr so schön angepeilt werden können. Die zukünftigen R32-Eigner werden aber kaum oft der Kurvenhatz auf Gotthard, Susten, Nufenen und Co. frönen, viel eher geht die Ehefrau damit einkaufen.

Das neue Modell des stärksten Golf kann alles besser als der Vorgänger. Nur die Übersichtlichkeit ist merklich schlechter verglichen mit dem Vierer. Und da ist dieser sehr hohe Preis (ab 54'000.- CHF) und die überteuerten Zusatzausstattungen, was man wiederum von VW kennt. Ansonsten kann man dem Neuen aber nichts ankreiden. Aber: Der neue Golf R32 ist kein sympathischer Rabauke mehr, er ist ein perfektioniertes Grossserienmodell geworden. Ecken und Kanten sind modernen Rundungen gewichen, Spaltmasse sind perfekt, Komfort wird gross geschrieben, der Auftritt wird dezenter gestaltet. So wird man das Ziel erreichen und eine eher auf gut motorisierten Komfort bedachte Klientel ansprechen. Die Zeit, in der ein R32 etwas Spezielles war ist damit aber auch vorbei. Schade eigentlich.