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zuendung

14. Dezember 2005
Eines haben sie uns automobil infizierten Jungs voraus: Die Eisenbahner nennen ihr Objekt der Begierde elegant und feminin "Lokomotive", während wir unsere fahrbaren Schätze bloss mit Sachlichem (das Automobil), Männlichem (der Wagen) oder Schäbigem (die Karre) liebkosen. Gewissermassen gehört die Lokomotive an sich neben anderen massigen weiblichen Geräten, wie die Schneeschleuder oder die Concorde, zu […]

Eines haben sie uns automobil infizierten Jungs voraus: Die Eisenbahner nennen ihr Objekt der Begierde elegant und feminin "Lokomotive", während wir unsere fahrbaren Schätze bloss mit Sachlichem (das Automobil), Männlichem (der Wagen) oder Schäbigem (die Karre) liebkosen. Gewissermassen gehört die Lokomotive an sich neben anderen massigen weiblichen Geräten, wie die Schneeschleuder oder die Concorde, zu den genetisch bedingten Interessen des Menschen, genauer gesagt des maskulinen Teils dieser Welt. Wobei strengen Regeln zufolge auch das Automobil dazu gezählt werden müsste, heisst doch die ursprüngliche, französische Bezeichnung "l'automobile" und ist genauso feminin.


Zierlich: und doch 32 Tonnen schwer…

Wie auch immer, der Traum eine Lokomotive zu steuern ist seit Jahren präsent, wobei ich hiermit meine Schwäche für schienengebundene Fahrzeuge preisgebe – die wohl selten mit automobilen Träumen harmoniert (ja, ich besitze ein Abonnement der Schweizerischen Bundesbahnen. Und ja, ich benutze es!). Im Lokomotivschuppen dann die erste Begegnung mit ihr. Eine O&K MB10N. Als Märklinkind ist einem der spielende Umgang mit Lokomotiven zwar gegeben, diese aber ist haushoch, ja 87 Mal grösser als gewohnt und streckt mir auf Brusthöhe ihre schwarz eingefetteten Puffer abwehrend wie zwei Fäuste entgegen. Wo bleibt die Eleganz einer Ae 6/6 oder eines RBe 4/4? Naja, sie ist eben Rangierlok. Doch für den Anfang genügt das.


O&K: Maschinenfabrik Orenstein und Koppel, Dortmund.

Der Migros-Mann öffnet den Führerstand: Es riecht nach Schmierfett, und die Antidröhnverkleidung an den Wänden und an der Decke erinnern an das Innenleben einer Waschmaschine. Fürs Einleben bleibt keine Zeit, mit einem Dreh am tellergrossen Handrad löst sich die Handbremse. Dann unter dem Armaturenbrett Druckluftbremsen einschalten (zisch, zisch), Hauptschalter umlegen und: Motor vorglühen! Vorbildlich springt die Deutz-V12-Maschine in Aktion und füllt den Führerstand mit dröhnendem Lärm und Vibration. Übrigens ein Hammerargument Lokomotivführer statt Automobillenker zu werden. Wo sonst bewegt man schon in der ersten Fahrstunde einen Zwölfzylinder?


Tachograf, Vorglühhebel, Drehzahlmesser, Stundenzähler, Bremsmanomenter: Wie im Flugzeug, nur nicht "abbrechbar".

Hoch das Tor, vor uns liegt ein Stück Industriegeleise, gerade richtig für die erste Fahrt. Bremshebel auf Lösen stellen, Fahrtrichtung bestimmen und vorsichtig am Gasrad drehen. Nix passiert, die O&K rührt sich nicht vom Fleck. Der Migros-Mann empfiehlt mehr Muskeln. Ein enthusiastischer Dreh folgt, der V12 legt tüchtig an Drehzahlen zu. Meine Ohren messen das Motorengeheul auf mindestens 1000 PS. In Wirklichkeit sind es jedoch nur deren 250, welche die tonnenschwere Fuhre schliesslich gemächlich anschieben. Die Kraftübertragung geschieht hydraulisch auf beide Achsen. Nun rumpelt die kleine Lokomotive aus dem Schuppen, hinaus auf die Gleisanlage. Begleitet von einer eindrücklichen Rauchfahne kommen wir in Schwung.


Die O&K im bunten Migros Budget-Kleid.

Teilnehmer des Individualverkehrs müssen sich daran gewöhnen, den Schienen ohne ihr Zutun, ja zwanghaft zu folgen. Der Einfluss des Piloten beschränkt sich aufs Beschleunigen und Verlangsamen. A propos: Beim Gasloslassen zeigt sich der geringe Rollwiderstand von Metall auf Metall – sind die 32 Tonnen Dienstgewicht einmal in Schwung, ändert sich das nur mit roher Gewalt. Wie kann ein vollbeladener Güterzug also jemals zum Stehen kommen? Laienfrage. Natürlich verfügen auch die Güterwaggons über eigene Bremsen.
Kurven mag die 1970 in Dortmung bei Orenstein und Koppel gebaute Lok nicht. Quietsch, zisch, widerwillig schüttelt sie sich und wirft den Lokführer an die Wand. Bald endet der Ausritt, vor der Anschlussweiche zur SBB-Strecke ist Schluss. Fahrtrichtungshebel umlegen, und die zweiachsige Maschine rollt zurück ins Depot. Sie lässt sich per Bremshebel erstaunlicherweise punktgenau stoppen.


zündung.ch Lokführer am Gasrad.

Fazit: Obwohl der kleinen O&K die feminine Eleganz und die Geschwindigkeit eines Neigezuges fehlen, spricht sie für die Eisenbahnerei und macht Lust auf mehr. Sie sichert sich den Platz im Männerherz mit inneren Werten: Zwölf prallvolle Töpfe, die unter Vollast ohrenbetäubend loslegen und sich auch bei Vollast keine Blösse geben. Oder mathematisch: Lärm + Kraft + Masse = Yeah baby!