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zuendung

27. April 2009

Herrlich unsportlich

Lancia | 0 Kommentare

Ja, richtig gelesen, "herrlich unsportlich" steht da im Titel. Heutzutage schon ein eindeutiger Widerspruch. Alles muss irgendwie sportlich und jugendlich sein. Wer will schon zu seinem Alter stehen und rückenschonende Möbel kaufen? Lieber etwas stylishes, das vielleicht nicht bequem, dafür aber auf den ersten Blick als hippe Designerware zu erkennen ist. Wer geht heute noch […]

Ja, richtig gelesen, "herrlich unsportlich" steht da im Titel. Heutzutage schon ein eindeutiger Widerspruch. Alles muss irgendwie sportlich und jugendlich sein. Wer will schon zu seinem Alter stehen und rückenschonende Möbel kaufen? Lieber etwas stylishes, das vielleicht nicht bequem, dafür aber auf den ersten Blick als hippe Designerware zu erkennen ist. Wer geht heute noch spazieren? Ich meine, ohne Stöcke. Nordic Walking heisst das heute und funktioniert genau gleich, soll aber ein Sport sein. Oder auf der Skipiste: Auch Grossväter werden lieber mit Extremcarvern an ihren Skischuhen gesehen, denn mit Komfortskis.

Im Autosektor sieht das ähnlich aus. Da blicken wir in aggressive Schlünde, die man früher schlicht Kühlergrill nannte. Und obwohl die Fahrzeuge immer grösser werden, gibt es innen kaum mehr Raum, geschweige denn ein besseres Raumgefühl. Zweiteres ist ebenfalls der optischen Sportlichkeit geschuldet: Zwecks Dynamisierung wird die Gürtellinie angehoben und das hohe Heck eingezogen. Der Wunsch nach Sportlichkeit hat dazu geführt, dass die stärksten Autos heute nicht mehr die Sportwagen, sondern die Geländewagen sind, die trotz hohem Schwerpunkt und immensem Gewicht mit Topfahrleistungen locken.


Charakterkopf: Der Lancia-Grill ist unverwechselbar.

Der Lancia Delta der neusten Generation geht da einen ganz anderen Weg. Das beginnt schon beim Design, dass ich im schlechtesten Fall als "speziell" bezeichnen würde. Ich bin aber überzeugt, dass sich viele Freunde der schönen Form genau einen solchen Kompakten gewünscht haben. Wobei das mit der Kompaktheit auch so eine Sache ist. Waren die ersten beiden Delta-Generationen immer als direkte Gegner des VW Golf zu verstehen, fällt der neue da irgendwie zwischen die Klassen. Der aktuelle Delta misst 4,52 Meter (über einen halben Meter mehr als der Delta II) und ist damit exakt gleich lang wie ein 3er BMW. Deshalb kann er auch problemlos die Nachfolge des wenig erfolgreichen Lybra werden, der ähnlich klassenlos war. Dabei hat der Neue sogar den grösseren Innenraum als der Lybra SW.


Hohe Qualität: Die Kunststoffe sind gut ausgewählt, das Cockpit weist nur wenige funktionale Schwächen auf.

Der Innenraum ist bei den aktuellen Lancia sowieso ein Thema für sich. Da ist zum einen einfach mal der Geruch, der mir sofort in die Nase steigt und irgendwie nach Italien duftet. Dann ein Armaturenträger der nicht sonderlich übersichtlich ist, dafür aber mit optischen Tricks wie indirekter Beleuchtung punkten kann. Ausserdem ist die Verarbeitung der Kunststoffe makellos. Das beeindruckendste Feature ist aber der Platz an sich. Auf den hinteren Sitzen kann ich sogar die Beine übereinander schlagen, wie ich das sonst höchstens vom London Taxi kenne. Die Rückbank ist ausserdem neig- und verschiebbar. So viel Praxisnutzen hätte man vom einem Paradiesvogel à la Delta nicht erwartet.


Tradition: Kein anderer Name wird so direkt mit Lancia assoziiert.

Und was versteckt sich unter der chrombewehrten Haube? Ein 1,9-Liter Diesel mit sage und schreibe 190 PS. Es scheint also fast so, als sei der Motor neben dem dynamischen D als Modellschriftzug das einzige sportliche Merkmal des Lancia Delta. Doch damit würde man den Fahrwerkstechnikern unrecht tun. Mit diversen Elektronischen Tricks, die sich natürlich hinter dreibuchstabigen Kürzeln verstecken, simuliert man beispielsweise eine Sperrdifferenzial. Das scheint bei 400 Newtonmeter durchaus Sinn zu machen. Der Biturbo ist ein eher gemütlicher Geselle, der nur auf Befehl seine Sportlichkeit nach aussen kehrt. Dann aber sprintet er in unter 8 Sekunden auf Tempo 100. Doch der Sprint ist in meinen Augen nicht die Paradedisziplin des Italieners.


Individualist: Das Design gefällt nicht jedem – und das ist gut so.

Viel besser liegt ihm das Reisen, das Gleiten, die weiten Strecken. Ein echter Granturismo eben, nur halt in modernem Kleid. Auf der Fahrt von Luzern nach Bellinzona nervt mich dieses Mal nicht einmal der Gotthard-Strassentunnel. Dafür ist unter anderem auch die optionale Spurhalteunterstützung verantwortlich. Sie greift bei drohendem Spurwechsel ohne Blinker korrigierend ins Lenkrad. Sollte der Fahrer den Spurwechsel beabsichtigt herbeigeführt haben, kann er einfach auf seinem eingeschlagenen Weg beharren und so das System übersteuern. Man könnte jetzt ja auf die Idee kommen, den Komfort weiter zu steigern und bei eingeschaltetem Tempomat die Hände ganz vom Steuer zu nehmen. Aber auch für diese Situation hat Lancia die richtige Antwort bereit: Das System nervt mit lautem Alarmton und mahnt den Fahrer, die Hände sofort wieder ans Lenkrad zu nehmen. Gut durchdacht. Dieses Prädikat passt grundsätzlich auch für das Licht: Automatische Fahrlichtschaltung mit Tagfahrlicht sind zeitgemäss. Auch eine Abbiegelichtfunktion fehlt nicht. Eher seltsam dagegen: Steht der Lichtschalter auf Automatik, ist es nicht möglich auf Volllicht zu schalten. Unter die Kategorie "italienische Skurrilitäten" fallen Dinge wie das quietschende Kupplungspedal und die Positionierung der Sitzheitungsschalter unter dem Handbremsgriff.


LED: Auch bei den Rückleuchten vertraut man auf neuste Technologie.

Unter dem Strich überwiegen die positiven Eigenschaften deutlich. Der klassenlose Lancia Delta kann mit einem praktischen Raumkonzept punkten. Ausserdem empfand ich das Fahrzeug als idealen Reisebegleiter, wozu die bequemen Alcantarasitze bestens passen. Der Biturbo-Diesel verleiht eine Souveränität, wie man sie sonst nur von grossen Limousinen mit V8 unter der Haube kennt. Dementsprechend ist der Lancia Delta 1.9 Multijet 16V Twinturbo DPF 190 PS auch keine Sportmaschine. Im Unterschied zu einem grossvolumigen V8 schluckt der "kleine" Diesel natürlich weit weniger. Ich kam mit 6,3 Liter aus, was durchaus akzeptabel aber auch nicht gerade rekordverdächtig tief ist. Den Preis des Testwagens von 46'000 CHF mit anderen Kompakten zu vergleichen, halte ich für sehr schwierig, da der Delta wie gesagt nicht wirklich ins Schema der Golf-Klasse passt. Der Preis scheint mir in Anbetracht der vollständigen Ausstattung und der Fülle an Platz und Power sehr fair kalkuliert zu sein.