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zuendung

27. August 2009

Im Brennraum

Lotus | 0 Kommentare

Plötzlich schiesst es mir durch den Kopf: Das Europa-Gefühl liegt fern von Brüssel und der kühlen EU. Wie man sich halb liegend im Sitz krümmt, um nicht den Kopf am Kunststoffdach zu stossen, so geht’s auch auf dem elektrischen Gestühl des Zahnarztes zu und her. Die Assistentin fährt einen hoch und biegt sich mit beängstigenden […]

Plötzlich schiesst es mir durch den Kopf: Das Europa-Gefühl liegt fern von Brüssel und der kühlen EU. Wie man sich halb liegend im Sitz krümmt, um nicht den Kopf am Kunststoffdach zu stossen, so geht’s auch auf dem elektrischen Gestühl des Zahnarztes zu und her. Die Assistentin fährt einen hoch und biegt sich mit beängstigenden Werkzeugen gefährlich nahe über einen! Der ungeübte Patient versucht sich wegzukrümmen. Trotz horizontaler Position, entspannt zu liegen ist kaum möglich. Schon kommt der Doktor und entdeckt im Mund, was man geahnt hat. Genauso im Europa, wer grösser ist als der 170cm lange, damalige Lotus-Chef Colin Anthony Bruce Chapman, der krümmt sich im Sportsitzchen. Entweder blockieren die Knie das winzige Lenkrad, oder aber der Kopf stösst am dünnen Dach an.


Flach: Der Lotus Europa ist so klein, dass er ohne gelbe Lackierung auf dem Bild beinahe nicht zu erkennen wäre.

In der Fahrstellung ist es genauso beklemmend, wie wenn der Zahnarzt den Bohrer anwirft: Anspannung von Zehe bis Haaransatz. Der einzig möglich Gedanke wenn die Bohrkrone näher surrt: „Schnell weg!“ Nach der aufwändigen Positionierung im Lotus frage ich mich, wie man so ein Fahrzeug überhaupt schnell bewegen kann. Nicht mal sich selbst zu bewegen ist im engen Cockpit möglich.
Nach einigen Anlassumdrehungen vibriert und dröhnt es in meinem Kopf, als ob der Zahnarzt den Bohrer in den Zahn tauchte. Unmissverständlich füllt der 1600er Vierzylinder seine halbkugelförmigen Brennräume (hemi). Der damalige Konstruktionsansatz bei Lotus führte bei manchen Rennen zum Sieg: „Add lightness!“ Frei übersetzt: Was nicht da ist, braucht nicht bewegt zu werden. Der Weg, einen Wagen schneller zu machen, führte bei Chapman nicht über mehr Leistung, sondern über weniger Gewicht. Dem Europa blieben durch schlichtes Weglassen einige Kilos erspart. Zum Beispiel an der Hinterachse übernimmt die Antriebswelle auch die Funktion der oberen Querstrebe. 660 Kilogramm sind es noch, die mich und den Beifahrer umfassen. Logische Folgerung von Chapmans Ingenieuren: Auf eine vibrationshemmende Motoraufhängung wird verzichtet. Daher das Brummen im Schädel.
Um beim Zahnarztvergleich zu bleiben: Bohren zertrümmert einem zwar beinahe die Knochen. Doch fliegt beim Bohren Material bzw. unnötiges Gewicht weg, was einen leichter und wiederum schneller macht. Also ist das etwas Gutes.


Schraubstock: Ausstattung und Innenraum sind minimal ausgelegt, was zum niedrigen Leergewicht von 660kg beiträgt.

Bereits im Leerlauf dreht die Maschine sportlich auf über 1200 Umdrehungen. Sie will mehr. Auf den ersten Metern kämpfen der linke und der rechte Fuss um Kupplung, Bremse und Gas. Grosse Füsse erweisen sich als nicht geeignet für die englische Flunder. Den ersten Gang einzusortieren erleichtert die schwammige Seilzugführung nicht gerade. Schliesslich rastet der Erste ein, etwas Gas und schon schiesst der flache Wagen davon – ähnlich einer Küchenschabe, die gerade noch unters Buffet abzischt, ehe sie an der Schuhsohle klebte. Flutsch! Die fehlenden Kilos machen sich angenehm bemerkbar. Das von Renault-Frisierer Gordini eingekaufte Triebwerk schiebt mühelos an und verlangt umgehend nach der nächsten Fahrstufe. Ein bisschen Töffgefühl macht sich breit. 1970, als der Europa die Werkshallen in Hethel, Ostengland verliess, war er weit und breit (bis auf Matra) das einzige erschwingliche Auto mit Mittelmotor. Die Idee war einfach: Chapman passte den verwindungssteifen Kastenrahmen des Elans so an, dass hinten Motor und Getriebe des frontgetriebenen Renault R4 Platz fanden. Darüber stülpte der gelernte Flugzeugbauer eine Carrosserie aus glasfaserverstärktem Kunststoff.


Kompromisslos: Die Designer waren bei den ersten Mittelmotorautos noch nicht sehr auf pure Schönheit, sondern eher auf Zweckmässigkeit bedacht.

Ist die Betriebstemperatur nun erreicht? Die Instrumente meinen nein. Sich auf die Anzeige zu verlassen wäre jedoch fahrlässig. Zumindest in einem Lotus, über deren Unzuverlässigkeit legendäre Geschichten herumgereicht werden. Lotus-Besitzer sind selten langweilige Menschen, nicht nur weil sie atemberaubende Pannengeschichten erzählen können. Wir sind der Meinung, dass Wasser und Öl vollgasbereit sind, weil die Innenraumtemperatur inzwischen auf Saunaniveau angestiegen ist. Erwartungsvoll krümme ich den Fuss aufs Gaspedal, und Vollgas!

Nichts passiert. Der Motor sackt auf Leerlaufdrehzahl zusammen. Mit dem letzten Schwung reicht es gerade noch auf den nächsten Hausvorplatz. Die Ursache der ausbleibenden Beschleunigungsorgie ist bald gefunden, der Gaszug ist abgerissen. Dank einigen Verrenkungsübungen unter dem Lenkrad befestigen wir – bewaffnet mit einem Sackmesser – den Gaszug behelfsmässig. Zurück bei Stalder & Moser GmbH in Rickenbach ZH, wo der Europa zum Verkauf steht, beenden wir den ersten Ausritt enttäuscht.


Wer sein Auto liebt, der schiebt: Wer Lotus fährt, kann Mitmenschen mit der einen oder anderen packenden Geschichte fesseln.

Zwei Wochen später klemmen wir uns erneut in Position. Diesmal mit neuem Gaszug. Jürg Moser, der Besitzer des Europas, baute den verbastelten Gaszug aus und ersetzte ihn durch eine Neuanfertigung. Mit Erfolg, nun lassen sich die beiden Doppelvergaser sauber steuern. Nur um zu sehen, ob wir es diesmal weiter bringen als beim letzten Ausflug, befahren wir dieselbe Strecke erneut. Am selben Punkt versuche ich nochmals Vollgas zu geben.
Die rechte Fussspitze bewirkt einiges. Aus vier Ansaugtrichterchen brüllt es frei heraus, ausgerechnet auf Ohrenhöhe! Meinen Beifahrer und mich trennt nur eine hauchdünne Rückwand aus Kunststoff vom Ansauggeräusch. Das Geräusch durchfährt einen, die Nackenhaare stehen rechwinklig. Ungefähr so stellen wir uns den idealen Weckton vor.
Die kurze Auspuffanlage sorgt zudem für Zuschauer an der Strecke. Jemand, in dessen Garage eine Elise steht, erwartet uns bei der Vorbeifahrt bereits winkend und jubelnd im Vorgarten. Ein längsseits der Strasse parkierter Alfa 147 GTA lässt seine Alarmanlage zwitschern, als wir mit geöffnetem Gashahn an ihm vorbeizischen. Wir bekräftigen uns gegenseitig in der Meinung, dass wir in einem für Fussgänger sehr sicheren Fahrzeug unterwegs sind. Schliesslich ist es weit voraus zu hören, so dass sich jeder rechtzeitig in Sicherheit bringen kann.


Gordinis Werk: Für die Kraft aus dem Drehzahlkeller zeichnet der einstige Renault Tuner Gordini verantwortlich.

Die vier Gänge brauchen nicht oft gewechselt zu werden. Trotz Sportlerseele besticht die Gordini-Maschine mit reichlich Drehmoment. Hochdrehen muss aber nur schon aus akustischen Gründen sein. Das Töffgefühl ist inzwischen reinrassiger Rennstreckenluft gewichen. Wie tief man im Lotus sitzt bzw. liegt, wird einem erst klar, wenn man an der Ampel neben einem – ebenfalls sportlichen MX-5 steht: Die Türöffner des japanischen Roadsters liegen auf Augenhöhe des Europa-Piloten. So schauen eben alle Verkehrsteilnehmer auf einen herunter. Und ehe jemand den Lotus-Schriftzug lesen kann, sind wir weg. Die Neugierigen lassen wir zurück, mit laut nachhallender Gordini-Musik im Ohr. Eins, zwei, drei, der Lotus schiesst vorwärts und klebt auf dem Asphalt wie ein Kaugummi auf dem Pausenhof. Aus Respekt vor der unbarmherzigen Fahrdynamik des Mittelmotorwagens und der fragilen Machart des Engländers loten wir den Grenzbereich in Kurven nicht aus. Obwohl – das ist die Krönung des Europas – die Lenkung messerscharfe Lust auf schnelle Kurvenkombinationen macht. Egal welche Geschwindigkeit, der Europa folgt Lenkbewegungen in Echtzeit. Ohne Spiel, ohne Verzögerung. Echt beeindruckend. Einer von Chapmans Grundsätzen lernen wir auf dem Schlechtwegabschnitt der Teststrecke schätzen: Eine Radaufhängung muss bewegen. Tief und hart nützt nichts. Querfugen und Unebenheiten steckt die Flunder erstaunlich gelassen weg, sehr zum Komfort der Insassen.
Ungleich des Zahnarztbesuches, im Europa vergeht die Zeit gefühlsmässig vier Mal schneller. Genauso wie sich gegen den Zahnmeister eine Abneigung aufbaut, haben wir zum Europa eine Zuneigung aufgebaut. Er gibt dem Fahrer das gute Gefühl, etwas fürs flotte Vorankommen geleistet zu haben. Und bevor wir süchtig werden nach Europa-Endorphinen, schieben wir den Europa erneut zu Stalder & Moser zurück. Diesmal nicht, weil der Lotus einer von Chapmans Überzeugungen erlag, sondern weil uns vor lauter Rumflutschen das Benzin ausging…

Den gelben Lotus Europa mit erst 50’000km kann man bei Stalder & Moser GmbH in Rickenbach ZH kaufen.