Seite wählen

zuendung

14. November 2005

Malunterricht mit dem Taxi-Benz

Mercedes-Benz | 0 Kommentare

ESP aus, Automatik manuell in den ersten Gang, linker Fuss auf die Bremse und der rechte tritt beherzt aufs Freudenspenderpedal: Kilometerlange schwarze Streifen bis an den Horizont werden in den Asphalt gebrannt. Yeah, so muss das gewesen sein, damals in den 60er Jahren, als die Hubrauminhalte noch in Inches gemessen wurden. Doch wir sitzen nicht […]

ESP aus, Automatik manuell in den ersten Gang, linker Fuss auf die Bremse und der rechte tritt beherzt aufs Freudenspenderpedal: Kilometerlange schwarze Streifen bis an den Horizont werden in den Asphalt gebrannt. Yeah, so muss das gewesen sein, damals in den 60er Jahren, als die Hubrauminhalte noch in Inches gemessen wurden. Doch wir sitzen nicht in einem antiken Amischiff mit gusseisernem Bigblock und sonstiger antiquierter Technik, vielmehr waren hier deutsche Mannen am Werk. In Mercedes‘ Edelschmiede wurde der 5,4 Liter-Motor mit einem Kompressor zwangsebatmet. Seit dieser Operation leistet er 476 PS und – was für die langen Striche sehr wichtig ist – einen Berg von 700 Newtonmeter an Drehmoment. Der Schwabenmotor hat freilich eine zentrale Gemeinsamkeit mit den Musclecars aus Amerika: Er sitzt als V8 unter der besternten Haube. Und: Mit der Dreiventiltechnik und nur einer Nockenwelle pro Zylinderbank gehört er zu den betagten Aggregaten im internationalen Vergleich.

Äusserlich unterscheidet die Topversion der E-Klasse wenig von einem E270 CDI. Gerade die Mercedes-Farbe „Smaragd“ – Schwarz mit 20%-Blauanteil – lässt die Limousine nobel aber nicht versnobbt auftreten. Vorne schafft sich der Motor durch etwas aufgeblähte Nüstern im unteren Frontbereich mehr Luft und seitlich zeugen silberne Buchstaben vom Sportprgramm unter der Haube: V8 Kompressor steht da ganz unbescheiden. Die meisten E 55 fahren aber sowieso ganz ohne jeglichen Buchstabensalat an der Karosserie. Am Heck dann der deutlichste Hinweis auf fast 500 PS: Vier Auspuffrohre lugen unter dem leicht abgewandelten E-Klasse-Stossfänger hervor.


Schöne 18-Zöller gibt’s serienmässig

Hat man das Keylesspaket bestellt öffnet sich die geschlossene Tür bei blossem betätigen der Bügelgriffe. Klar, das gibt’s auch bei Renaults Kleinwagen Clio, trotzdem kann man damit immer noch die eine oder andere Wirtschaftsstudentin beeindrucken. Im Innenraum schwelgt man in einer Mischung aus Leder, sehr dunklem Wurzelholz und edlen Kunststoffen.Der Blick des Fahrers fällt auf ein eher zu grosses Lenkrad mit Multifunktionstasten und auf weiss hinterlegte Instrumente. Die magische Zahl 300 schliesst den Tacho ab. Wassertemperatur und Tankanzeige werden verspielt und schlecht ablesbar als digitale Balken dargestellt. Auf der Mittelkonsole finden sich über 70 Tasten, wenn man das grosse Navigationssystem Command wählt. Spätestens hier kriegt jeder nach Ergonomie suchende Mensch die Krise. Ein tolles Feature gibt es aber (gegen Aufpreis versteht sich): Der CD-Wechsler gleitet hinter einer Knopfleiste hervor und verschwindet wieder wie von Geisterhand. Die Wirtschaftsstudentin freut’s.


E-Klasse im AMG-Kleid: Dezente Schweller ringsum.

Aber wir wollen nicht weiter auf Ergonomie- oder Verarbeitungsschwächen herumhacken: Ein Knopfdruck auf den Automatikschaltstock und der Kompressor-V8 erwacht. Zu hören ist nur der Kompressor. Leider.
Egal, der rechte Fuss tritt vorsichtig aufs Gas, der linke… ja was ist eigentlich mit dem linken Fuss? Mercedes hat es im E55 AMG nicht einmal geschafft, eine anständige Fussstütze zu montieren. Und das in einem Auto für über 150’000 Franken. Also, der linke Fuss steht schräg an das mit Teppich bezogene Radhaus gelehnt im Fussraum herum, der rechte lässt den Zweitonnenexpress zügig aber unspektakulär beschleunigen. So lässt es sich reisen. Natürlich kann er auch anders. Dazu kann man zu jeder Zeit bei jeder Geschwindigkeit das Pedal durchdrücken und das schlafende Lämmchen innert Sekundenbruchteilen zum feuerspeienden rasenden Ungeheuer machen. Versucht man das im Stillstand, lässt das ESP leichten Schlupf zu. Auch beim Schalten in den zweiten Gang vernimmt man das Geräusch von brennendem Gummi von der Hinterachse. Und nach 4,7 Sekunden ist man bereits 20 km/h über der Ausserortslimite.


Erstaunliche Schwächen in der Verarbreitung: E 55 AMG Innenraum

Allerdings gibt’s ja im schweizer Strassennetz auch ab und zu mal eine Kurve. Dort findet der E 55 seine Meister, da er (auch in der sportlichsten Fahrwerkseinstellung) eher auf Komfort getrimmt ist. Zum Kurvenbeginn untersteuernd, am Kurvenausgang mit beherztem Gaseinsatz im leichten Drift auf die nächste Gerade. Das macht allerdings weniger Spass, als in einem echten Sportwagen. Die Ursache für die ausbleibende Glückshormonausschüttung ist schnell gefunden: Die Lenkung. Noch immer können die Schwaben keine wirklich direkte, sportliche Lenkung mit natürlicher Rückmeldung verbauen. BMW zeigt hier ganz klar, was möglich wäre. So aber verkommt der E55 zu einem übermotorisierten Cruiser, der nur von Experten am Limit bewegt werden kann. Hinzu kommt ein bei Nässe recht tückisches Fahrverhalten in engen Kurven.


Wenn diese Visage im Rückspiegel auftaucht… ist es bereits zu spät.

Mir ist natürlich klar, dass es leicht unfair ist, einer Powerlimousine von Mercedes fehlende Sportwageneigenschaften zu attestieren. Die meisten E55-Fahrer werden sich mit dem Gefühl des unendlichen Schubes des V8-Motors zufrieden geben und nur selten die landschaftlich schönere Strecke wählen. Für Autobahnfahrten ist das Topmodell aus Stuttgart sicher absolute Weltklasse. Einen entscheidenden Beitrag leistet hier die sanft schaltende 5-Gang-Automatik. Sie wurde erst durch Konkurrenz aus dem eigenen Haus vom Thron gestossen: Die 7G-Tronic ist in den neuesten Mercedes-Modellen erhätlich, aber nicht im wohl bald auslaufenden E 55 AMG. Ein weiteres Topfeature sind die Bremsen, die zur Verzögerung ebenso eindrücklich zupacken, wie das Geschoss beschleunigt.


Erkennungszeichen Nr. 1: Vier Auspuffrohre hat nur die AMG-Version der E-Klasse.

Einen Mercedes E 55 AMG zu kritisieren ist bestimmt nur „Jammern auf hohem Nivau“, doch auch das müssen sich die deutschen Premiumhersteller gefallen lassen. Diese Limousine ist perfekt. Solange man nicht zu sportliche Absichten hegt, solange man nicht im Winter bei Schnee fahren möchte, solange man nichts langes im Innenraum transportieren möchte (nicht umklappbare Rücksitze) und solange man Zeit hat, die komplizierte Bedienung über all die Knöpfe im Cockpit im Handbuch nachzulesen. Sie bietet vier Personen vorzüglichen Reisekomfort mit Topklima (4-Zonen-Klimaanlage). Das alles hat natürlich seinen (hohen) Preis.

Hm, aber einen Burnout mach‘ ich noch!