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zuendung

31. Mai 2006

Moderner Klassiker

Wiesmann | 0 Kommentare

Unser Deutschland-Korrespondent fährt die eierlegende Wollmilchsau Audi RS4 zur Probe, Mirko testet das Blechdachcabrio für Weicheier aus dem Hause Volvo. Aber ich wende mich dem puristischen Fahrvergnügen eines deutschen Roadsters zu. Deutscher Roadster? Das kann nur der SL sein. Aber weit gefehlt. Unser Testfahrzeug sieht nämlich wirklich wie ein klassischer Roadster aus. Fast etwas zu […]

Unser Deutschland-Korrespondent fährt die eierlegende Wollmilchsau Audi RS4 zur Probe, Mirko testet das Blechdachcabrio für Weicheier aus dem Hause Volvo. Aber ich wende mich dem puristischen Fahrvergnügen eines deutschen Roadsters zu. Deutscher Roadster? Das kann nur der SL sein. Aber weit gefehlt. Unser Testfahrzeug sieht nämlich wirklich wie ein klassischer Roadster aus. Fast etwas zu englisch, für ein deutsches Auto. Allerdings ist es in Zeiten von konvergierenden Designentwürfen ein echtes Kompliment, wenn man über ein Auto sagen kann, dass es von vorne dem Jaguar Type C ähnelt. Wenn es sich dann noch um ein deutsches Auto handelt, kommt das wohl fast einem Ritterschlag gleich. Das Auto mit der betörenden englischen Roadsterform hört auf den schlichten Namen Wiesmann Roadster MF3.


Klassische Roadster-Silhouette: Die perfekten Proportionen werden durch eine lange Haube und ein kurzes Heck erreicht

MF steht dabei für die Beiden Wiesmann-Brüder Martin und Friedhelm. Diese hatten in den 1980er Jahren die Idee, einen Sportwagen selbst zu entwickeln. Diesen Traum träumen viele, aber die Wiesmänner haben 1993 ernst gemacht und den ersten Roadster aus eigener Produktion vorgestellt. Doch was da vor uns steht ist trotz Retrodesign ein topaktuelles Auto. Also, die winzigen Türchen geöffnet und bei geöffnetem Dach in den Sitz geflutscht. Nicht auszudenken, wie unbequem es wird, wenn das Dach zu ist. Im Innenraum schwelgt man erst mal in der verschwenderischen Verwendung von Kuhhäuten. Aus über 400 Ledervarianten kann man wählen. Selbst die Farbe der Ledernähte ist dem individuellen Geschmack unterworfen.


Handwerk: Der perfekt verarbeitete Innenraum bietet Augen und Händen unendliche Erlebniswelten

Das Startprozedere ist eigentlich unnötig kompliziert, und doch macht es Spass. Den Zündschlüssel auf Zündung ein, dann den metallenen Knopf gedrückt, das Biest erwacht. Den winzig kleinen Ganghebel gepackt und die erste Stufe eingelegt. Los geht's. Klack, klack und schon ist der zweite Gang drin. Die Schaltung kann aus dem Handgelenk bedient werden. Das soll ein BMW-Getriebe sein? Ein normales BMW-Getriebe zu schalten fühlt sich dagegen an, als ob man mit einem Löffel in einer riesigen Schüssel Pasta wühlt. Doch ans Essen ist momentan sowieso nicht zu denken, viel zu fesselnd ist das Erlebnis, einen Wiesmann Roadster zu bewegen.


Radwerk: Es müssen nicht gleich diese Riesenräder sein, aber 19 Zoll ist Standard.

Durch die tiefe Sitzposition bleibt nicht nur die Frisur einigermasen erhalten, man hat auch das Gefühl, mit dem Fahrzeug zu verschmelzen. Alle Bedienelemente sind am richtigen Ort. Nur die Instrumente sind in weiter Ferne. Allerdings braucht man die auch nicht wirklich, einen Wiesmann fährt man nach Gefühl. Gut wäre aber, wenn der Beifahrer ab und zu auf den Tacho schauen würde, nicht dass der Fahrer seinen Gefühlen allzu freien Lauf lässt. Denn bei gerade einmal 1180 kg Lebendgewicht und satten 343 PS ist eines klar: Der Wiesmann geht tierisch! Zunächst gilt es aber, innerorts im Verkehr mitzuschwimmen. Eine Aufgabe, die der Roadster ohne Murren entgegennimmt. Im ersten Kreisverkehr wird deutlich, was den MF3 ausmacht: Obwohl ich nur sanft am kleinen airbaglosen Ledervolant drehe, macht er einen riesigen Sprung, als ob ich wie wild gekurbelt hätte. Die Direktheit der Lenkung ist phänomenal, braucht aber Eingewöhnung. Auch mit der Übersicht ist das so eine Sache: Obwohl nur 1.75m breit, hat man im Wiesmann anfänglich das Gefühl, ein relativ grosses Auto zu fahren. Mit 3.86m Länge ist er äusserst parkfreundlich, was auf dem Kiesplatz vor meinem Schloss aber nur eine untergeordnete Rolle spielt.


Geschmack: Das Grau der Karosserie passt mit dem roten Innenraum besser zusammen, als es die Fotos vermuten lassen würden

Doch anstatt weiter von kecken Schlossfräuleins, Türmen und Ziehbrücken zu träumen, gebe ich dem MF3 endlich die Sporen. Dazu gekonnt mit einem Stoss Zwischengas in den zweiten Gang geschaltet und dann einfach stehen lassen. Ein Traum, wie der BMW M3-Motor hochdreht. Für Zahlenfetischisten: Von 0 – 100 braucht der MF3 4,9 Sekunden und bei 255 km/h ist das Ende der Fahnenstange erreicht. Typisch für den Reihenmotor ist der harmonische Klang, der einen die hohen Spritpreise vergessen macht. Der Sound macht süchtig. Und spätestens ab der ersten Kurve hat der Wiesmann die volle Aufmerksamkeit, das Becker-Radio wird auf stumm geschaltet oder zwecks Leistungsgewichtsverbesserung gar nicht erst geordert. Einfach herrlich, wie dieses Auto am Boden klebt und doch auf Geheiss des Fahrers hin ein leichtes Power-Oversteering zulässt. Das ESP ganz auszuschalten ist nicht unbedingt nötig, es ermöglich aber zusammen mit der Differentialsperre noch krassere Driftwinkel und dürfte den echten Könnern Freudentränen in die Augen steigen lassen. Entscheidend für das Fahrgefühl ist das nicht zu tiefe Gewicht. Man kriegt den Eindruck, in einem massiven Stück Metall sicher untergebracht zu sein. Kein Vergleich zu Lotus Elise oder ähnlichen Fahrzeugen. Hier macht sich die typisch deutsche Wertarbeit bemerkbar. Denn abgesehen von den etwas klapprigen Türchen ist am MF3 wirklich alles satt und fest.


Gesicht: Die Wiesmann-Schnauze hat ein hohes Wiedererkennungspotential

Es ist dieses Art von Solidität im Einklang mit der verspielten Karosserie und dem äusserst drehfreudigen Motor, die dieses Auto zum Ereignis machen. Dazu kommt das traumhaft verarbeitete Interieur, eine Schaltung aus dem Bilderbuch und eine trockene direkte Lenkung, die den echten Mann am Steuer fordert. Ausserdem kann die BMW-Mechanik in jeder BMW-Werkstatt repariert werden. Konkurrenz ist nicht wirklich in Sicht, schliesslich baut der einzige ähnliche Hersteller wohl bald keine Autos mehr: TVR. Der Glückliche, der ungefähr 150'000 CHF aufbringen kann, erhält nicht nur all diese Vorteile, sondern auch eine gehörige Portion Exklusivität und das Gefühl, etwas Handgemachtes zu fahren. Ich weiss, das liest sich jetzt wie in einem Wiesmann-Prospekt. Doch ich kann nichts dafür, denn selten hat mich ein Auto derart überzeugt und fasziniert. Während Mercedes in jedem zweiten Marketingsatz die Emotionen anpreisen muss, setzt man sich bei Wiesmann einfach ins Fahrzeug und spürt es. Deshalb zum Abschluss eine Zeile, die nun wirklich dem Wiesmann-Prospekt entsammt: "Steigen Sie ein und träumen Sie mit…"