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zuendung

7. März 2006

Perfektion sticht Emotion

Mercedes-Benz | 0 Kommentare

Gut zwei Jahre ist es her, als mir ein AMG-Entwickler von seiner ersten Begegnung mit der neuen Mercedes S-Klasse erzählte: "Alle regen sich über den BMW Siebener auf. Die sollten lieber abwarten, bis die S-Klasse kommt", schwäbelte der Ingenieur und verdrehte die Augen. Und tatsächlich: Sowohl der viel gescholtene aufgesetzte Heckdeckel als auch das als […]

Gut zwei Jahre ist es her, als mir ein AMG-Entwickler von seiner ersten Begegnung mit der neuen Mercedes S-Klasse erzählte: "Alle regen sich über den BMW Siebener auf. Die sollten lieber abwarten, bis die S-Klasse kommt", schwäbelte der Ingenieur und verdrehte die Augen. Und tatsächlich: Sowohl der viel gescholtene aufgesetzte Heckdeckel als auch das als Werk des Teufels beschimpfte i-Drive finden sich im neuen Top-Benz wieder. Dazu noch Kotflügelverbreiterungen, die selbst Willy Koenig in den Achtzigern schlaflose Nächte bereitet hätten.


Dicke Backen: Die Kotflügelverbreiterungen wirken zunächst etwas befremdlich.

Um die Geschmacksfrage gleich zu klären: Das Exterieur der S-Klasse geht in Ordnung, wenngleich die Lackierung in Kamelbraun-Metallic des Testwagens nicht unbedingt den Zeitgeist trifft. Die Gestaltung des Innenraums hingegen scheint zielstrebig auf den vermutlich über 60jährigen Durchschnittskunden zugeschnitten. Derart viel optische Spießigkeit versprüht derzeit nur Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger. Der Gipfel des Stuttgarter Wohnzimmer-Barock stellt die rechteckige Analoguhr in der Mittelkonsole dar. Wie gesagt, die Zielgruppe dürfte diesen Look honorieren. Zumal es an der Funktionalität, wie erwartet, nichts auszusetzen gibt – trotz oder gerade wegen dem Command-System. Ob seiner Schiebefunktionen beraubt und m ein paar Direktwahltasten für die Hauptbedienebenen Navi/Audio/Klima/Telefon angereichert funktioniert die Bedientechnologie tadellos.


Klaviatur 1: Das Command-System gibt keine Rätsel auf, die Extra-Telefontastatur wirkt ungewohnt.

Wie überhaupt sich der S500 tadellos bedienen und fahren lässt. Der Sitz lässt sich über den, wie üblich bei Daimlers in der Tür platzierten, Mini-Sitz in die optimale Position rücken. Das Feintuning (Massagefunktion, fahrdynamische Multikontur-Funktion, Sitzhärte etc.) wird per Command vorgenommen. Durch einen Dreh an der mittlerweile mit einer Chromspange verzierten Zündschlüssel-Dörrpflaume wird der Fünfeinhalb-Liter-V8 zum Leben erweckt – wenn man vergessen hat, bei der Position "Keyless-Go" in der Aufpreisliste ein Kreuzchen zu machen. Keyless-Entry funktioniert hingegen immer. Mit dem Start des Motors erwacht auch der projizierte Tacho zum Leben, nur noch Drehzahl, Füllstand des Tanks und Kühlwassertemperatur werden von real existierenden Zeigern mitgeteilt.


Klaviatur 2: Die Sitzeinstellung erfolgt wie gewohnt über Tasten in der Tür.

Auch der Automatik-Wählhebel wird nun nicht mehr durch die einst so typische Irrgarten-Kulisse zwischen den Sitzen bewegt, sondern US-Schlitten- und BMW-Siebener-like am Lenkrad. Glücklicherweise ist das Gaspedal a) noch keine Computer-Animation und b) da wo es instinktiv vermutet wird. Die 388 PS nehmen den Kampf mit zwei Tonnen Lebendgewicht auf – und schieben leise blubbernd an. Es blubbert aber nur, wenn das sensationelle Logic7-Audiosystem aus ist und man wirklich ganz genau hinhört. Keine Frage, der neu konstruierte Achtender ist ein Meisterwerk an Laufruhe und Laufkultur. Mit einer Konstanz, wie sie sonst nur bei Gleichmäßigkeitsprüfungen von Oldtimer-Ausfahrten zu sehen ist, schwingt sich das Triebwerk die kümmerliche Tortenstück-Drehzahlskala empor. Erst bei kurz vor 7.000 Umdrehungen wirft der Siebengang-Automat die nächste Welle rein.


Quergestreift: Die unterbrochenen Rückleuchten sind ein interessantes Detail der neuen S-Klasse.

Die Fahrleistungen sprechen für das Aggregat, von 0 auf 100 km/h soll es die Luxuslimousine in 5,4 Sekunden beschleunigen. Die abgeregelte Höchstgeschwindigkeit wird mit einer Unaufgeregtheit erreicht, wie es eben nur in der Oberklasse geht. Unruhe bringt nur der Abstandsregeltempomat Distronic Plus ins Spiel. Zunächst sei aber erwähnt, dass, entgegen Fernsehberichten, die Technik tadellos dem Fahrer assistiert. Das System bremst bis zum Stillstand runter, wenn es das von selbst nicht schafft, animiert es per Warnton den Fahrer rechtzeitig zur Vollbremsung. Problem ist nur, dass unter realen Verkehrsbedingungen immer ein anderer vorwitziger Autofahrer den Sicherheitsabstand als Lücke nutzt und der S-Klasse-Pilot immer weiter nach hinten zurückgereicht wird. Schert man hinter einem Fahrzeug zum Überholen aus, zeigt sich doch eine, zugegeben marginale, Schwäche des Systems: Der Einsatz der Beschleunigung erfolgt etwas zu zaghaft, manuelles Eingreifen ist dann vonnöten.


Schluss mit lustig: Die neue S-Klasse hat die Bescheidenheit des Vorgängers abgelegt.

Die Elektronik ist übrigens auch dann zur Stelle, wenn es mal nicht nur geradeaus geht. In diesem Fall tritt das aufwendige Fahrwerk mit automatischem Wankausgleich auf den Plan. Zudem stemmen sich die fahrdynamischen Multikontur sitze den Fliehkräften entgegen. Allerdings nur in der ersten Reihe, denn hinten gibt's zwar in allen Richtungen verstellbare Einzelsitze, aber nur ohne den Fahrdynamik-Gimmik. Macht nix, denn das Platzangebot hinten ist für einen über fünf Meter langen Oberklasse-Dampfer schlicht lächerlich. Wir reden hier von der kurzen Version. Der Einstieg gestaltet für Menschen mit Schuhgröße 44 und mehr überdies alles andere als standesgemäß. Der AMG-Mann sollte also Recht behalten, Einiges an der neuen S-Klasse sorgt für Erstaunen. In erster Linie ist es das Fahrerlebnis, das ob seiner scheinbar mühelosen Perfektion erstaunt. Manche mögen dadurch Faszination empfinden. Für den Rest ist's einfach nur fad.