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zuendung

6. Mai 2014

Schwingkönig

Tatra | 0 Kommentare

Wie die Hose des Gegners packt sich der Tatra die kurvige Landstrasse im Oberland. Und lässt sie nicht mehr los: Exakt folgt der Geländelastwagen den raschen Richtungswechseln. Die Strassenlage ist beeindruckend. Insbesondere für ein Gefährt, das nicht unbedingt für Asphaltflächen, sondern vielmehr für Flussbette oder Felspassagen entworfen wurde. Die rassige Gangart mischt Tatra nach einem […]

Wie die Hose des Gegners packt sich der Tatra die kurvige Landstrasse im Oberland. Und lässt sie nicht mehr los: Exakt folgt der Geländelastwagen den raschen Richtungswechseln. Die Strassenlage ist beeindruckend. Insbesondere für ein Gefährt, das nicht unbedingt für Asphaltflächen, sondern vielmehr für Flussbette oder Felspassagen entworfen wurde.

Die rassige Gangart mischt Tatra nach einem über 90-jährigen Rezept: Jedes der sechs Räder ist einzeln aufgehängt und gewinnt dadurch im Vergleich zu bei Nutzfahrzeugen üblichen Starrachsen an Beweglichkeit. Schwingachsen passen sich somit leicht an den Untergrund an. Das bewährt sich abseits der Strasse und – als netter Nebeneffekt – auch auf der Strasse. Hans Ledwinka, ein tschechischer Ingenieur, schuf die heute noch gültige Radaufhängung in den 1920er Jahren. Je nach Version der Geschichtsschreibung gilt er, zusammen mit Ferdinand Porsche, auch als Schöpfer des Volkswagen Käfers.

Der Ur-VW schwang seine Räder einst nach ähnlicher Art. Lastwagen aus dem tschechischen Kopřivnice, wo Tatra auch heute noch daheim ist, fahren seit 1923 auf Schwingachsen. Mit Erfolg, haben Tatra-Lastwagen doch schon etliche Siege an der Dakar Rallye eingefahren. Das nüchterne Versprechen auf der Tatra-Webseite klingt entsprechend selbstbewusst: „Ein Tatra kann sich bitterer Kälte sowie abnormal hohen Wüstentemperaturen anpassen.“ Tatsache ist, dass fast alle Atomstreitkräfte ihre Waren und Waffen von den robusten tschechischen Konstruktionen über Stock und Stein tragen lassen: Russen, Amerikaner, Israeli, Araber und auch Inder setzen auf Tatras Geländefähigkeiten. Inwiefern Tatra damit zum Weltfrieden beiträgt ist fraglich; jedoch rein technisch gesehen sollte ein Tatra also auch in einem Schweizer Kieswerk zu Recht kommen.

Unser Testwagen trägt kein Waffensystem, er besteht nur aus Chassis und Kabine, erhält aber später einen Kran und eine Kippbrücke aufgebaut. Die freie Sicht aufs Chassis beeindruckt mit seinem massigen Unterbau: Die Differenziale der Schwingachsen und das Verteilergetriebe sind miteinander verschraubt und bilden ein massives Zentralrohr. Darin laufen die Wellen vor Schmutz geschützt vom Getriebe zum Verteilergetriebe und zu den Differenzialen. Dicke Antriebswellen übertragen die Kraft zu den Rädern. Diese wiederum sind an Schwingen aufgehängt, die sich einseitig auf Luftfederbälge stützen. Über dem selbsttragenden Zentralrohr thront ein beinahe gewöhnliches Leiterrahmenchassis, das allein dazu dient, den Aufbau zu tragen. Tatra baut die Chassis nach einem Baukastensystem. Die Achsen können in fast beliebiger Reihenfolge lenkbar, doppelbereift und angetrieben, luft- oder stahlgefedert sein. Ganz nach Käuferbedürfnis sind unzählige Varianten möglich – bis zum 12×12!

Wir wählen uns leicht durch die 16 ZF-Gänge und lassen das satte Drehmoment des 12-Litermotors für uns arbeiten. Soweit bekannt und geschätzt von bisher getesteten DAF, wie auch die vom DAF CF entlehnte Kabine. In ihr überblickt man die Strasse sehr gut, auch weil sie auf dem Tatra-Chassis etwas höher montiert ist. Die Bedienelemente sind sauber ablesbar, aufgeräumt und gefallen durch ihre DAF-typische Einfachheit. Nur der Tatra-Schriftzug auf dem Lenkrad holt einen aus der DAF-Welt – und die einzigartige Strassenlage: Lenkradspiel kennt der Tatra keins, rassig gehorcht er den Richtungswechseln und bleibt dabei steif wie ein Sportwagen. Kein Neigen, kein Reifenquietschen in schnellen Kurven; recht spät erst schiebt er über die Vorderachse und erinnert einen an die doch tonnenschwere Fuhre. Aber wir sind ja nicht gekommen, um über die Strassenlage, sondern über die Lage abseits der Strasse zu berichten: Ein unscheinbarer Knopf sperrt den 6×6 in Längsrichtung. Der ist nun gedrückt, und wir schwenken ins Abseits; zuerst auf einen Feldweg, dann grobe Steigung, dann Wiese. Ein Untersetzungsgetriebe ist nicht verbaut, die Gesamtübersetzung ist kurz genug, und Drehmoment ist genug da. Es geht ganz schön bergauf, der Tatra folgt unbeeindruckt. Schön ist auch, wie das Lenkrad dem Fahrer sanft über Bodenunebenheiten berichtet. Streckt man den Kopf aus dem Fenster sieht man, wie sich die Achsen verschränken, und die Räder immer Bodenkontakt haben. Im nassen Gras verlieren aber auch sechs angetriebene Räder irgendwann die Haftung und drehen durch. Dass Tatras Versprechen richtig sein könnte, glauben wir bald, denn nicht viele andere Nutzfahrzeuge in dieser Grössenordnung hätte unseren Spuren folgen können.

Fürs Grobe gebaut, aber sehr feinfühlig und ausgereift. Strassenlage und Traktion sind unerreicht in dieser Fahrzeugklasse. Am Steuer überkommt einen ob der beeindruckenden Verbindung mit dem Erdreich ein überirdisches Gefühl: Wollte man die Welt einmal in die entgegengesetzte Richtung drehen, man bräuchte nur den Tatra festzuhalten und den Rückwärtsgang einzulegen. In Wirklichkeit kennt aber auch ein Tatra Grenzen. Der Phoenix trägt nicht zufällig den Namen des Wiedergeborenen aus der Mythologie: Zum Überleben braucht es die westlichen Märkte. Trotz überlegener und robuster Technik haben es bisher nur wenige Schwingachser nach Westeuropa geschafft. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist es Tatra nicht immer gelungen, genügend Käufer zu finden. Finanzielle Sorgen begleiten die Tschechen. Schliesslich beteiligt sich der holländische Lastwagen- und Motorenhersteller DAF Trucks mit 19% an Tatra. DAF steuert moderne Motoren (Euro 6) und Kabinen bei. Der von uns getestete Phoenix ist das erste Kind dieser Ehe. Seit seiner Präsentation im September 2011 vertraut er auf den DAF MX Reihensechser statt auf den Tatra-eigenen V8. Tatra werden seit kurzem über das offizielle DAF-Händlernetz vertrieben. So kann die Marke hoffentlich etwas (zivilen) „Westwind“ aufnehmen und an die einstigen Erfolge anknüpfen. Wir wünschen dem tschechischen Traditionsbetrieb viel Erfolg im Schweizer Gelände und freuen uns, dass ein kleiner Anbieter den von noch fünf Lastwagenherstellern geprägten Alltag aufhellt. Den Import für die Schweiz hat die für DAF bekannte Firma Wirag in Rickenbach bei Wil übernommen.