Was muss eine Elektroauto bieten, um uns Verbrennerköpfe zum Umstieg zu überzeugen? Klar, eine vernünftige Reichweite muss sein. Neueste Technik bei den Assistenzsystemen? Gerne. Ein gut bedienbares Interface für die Multimedia- und andere Funktionen ist auch 2021 noch nicht Standard, kommt also ebenfalls auf die Liste. Dann sollte es natürlich Platz für vier Personen und deren Gepäck bieten. Und wenn es geht, soll es bitteschön auch noch ziemlich cool aussehen.
Auf den ersten Blick kommt von Kia ein Auto, das hinter jedes Kriterium ein schwungvolles Häkchen zu zeichnen scheint. Ist dem wirklich so? Wir haben uns den nigelnagelneuen Kia EV6 genau angeschaut.
Ich fange aussen und somit beim Design an. Ein bisschen wirkt es, als sei dieser Kia von einem Stand auf einer der heute kaum noch stattfindenden Automessen ausgebüchst. Und zwar als Concept Car. Eine Form, wie wir sie noch nie gesehen haben, die uns aber trotzdem sofort anspricht. Gut gemacht! Vorne vermitteln zugespitzte Scheinwerfer Sportlichkeit, während die scheinbare Absenz eines Grills für einen eigenständigen Look sorgt. Die von Peter Schreyer eingeführte Tigernase ist hier nur noch andeutungsweise vorhanden, wobei die Scheinwerfer darin integriert wurden. Im Seitenprofil wirkt der EV6 ebenfalls sehr dynamisch und clean. Am Heck erinnert mich der Anblick an das Maul eines Bartenwals, obwohl ich bis jetzt noch keinen aus der Nähe gesehen habe. Wir halten nochmals fest: So ein Auto haben wir noch nie gesehen. Dass mit den vorne wie hinten verbauten LED-Leuchteinheiten so einige Spielereien möglich sind, kennt man von anderen Herstellern. Zum futuristischen Aussehen des südkoreanischen Neulings passen sie aber besonders gut.
Innen geht es futuristisch weiter. Zwei grosse Screens dominieren, eine schwebende Konsole trennt die vorderen Insassen, was aussieht wie Leder ist im Testwagen eine veganes Material. Die Bildschirme fallen durch sehr schön gestaltete Grafiken auf. Wie beispielsweise bei Mercedes, findet sich auch im Kia ein Zweispeichen-Lenkrad, auf dem neben den üblichen Tasten für Tempomat und Multimedia am unteren linken Rand des Pralltopfes auch die Taste für die Drive Modes angebracht. Drive… da war doch was. Richtig: Fahren wollen wir und zwar jetzt. Also den grössten Knopf im ganzen Auto drücken, nämlich die runde Powertaste. Dann den ebenfalls runden Regler des Getriebes nach rechts drehen, um D auszuwählen. Klingt komplizierter als es ist.
Denn der EV6 fährt sich wie eigentlich jeder Kia, nämlich einfach und ohne grosse Eingewöhnungszeit. Sogar das „Problem“ der verschiedenen Rekuperationsniveaus hat man hier sehr elegant und eingängig gelöst. Per Lenkradpaddel switcht man zwischen Segel- und One-Pedal-Modus und den Stufen dazwischen. Zieht man länger daran, lässt sich damit auch ein ziemlich gut funktionierender Automatikmodus wählen. Sehr clever und defintiv zur Nachahmung empfohlen. Looking at you Audi, Porsche und Co. Ein bisschen mehr Feinschliff vertragen die Übergänge zwischen den Rekuperationsstufen.
Apropos Stufen: Während die Freaks schon auf den im Frühling erscheinenden GT mit der Wahnsinnsleistung von 585 PS schielen, fahre ich hier den 235 PS starken Hecktriebler mit dem 77 kWh Akku. Und ich muss sagen: Das reicht locker. Klar kann man sich nicht gleich vorwärtszoomen, wie man das von enorm leistungsstarken Elektroautos kennt. Das ist aber auch selten nötig. Und schon jetzt gewinnt man an der Ampel eigentlich immer. Und wie schaut es an der Ladestation aus? Auch hier ist der Kia EV6 ein Gewinner. 800-Volt-Technik, wie man sie sonst bislang nur vom Porsche Taycan kennt, sorgt für kurze Ladestopps, sollte man unterwegs einmal „auftanken“ müssen. Stellt sich natürlich noch die Frage, wie oft man auf Reisen anhalten muss. Im Test bei einstelligen Wintertemperaturen reichten knapp 21 kWh für 100 Kilometer, was eine Reichweite von 370 Kilometer ergibt.
Egal ob die Strecken lang oder kurz sein mögen: Die Assistenzsysteme sind immer präsent. Während der Spurhalter teilweise eher nervig sein kann, funktioniert der Abstandstempomat sehr gut. Der Spurwechselassistent hinterliess einen zwiespältigen Eindruck, einerseits wechselt er selbsttätig die Spur, verlangt aber andererseits, dass man das Lenkrad permanent in den Händen hält. Definitiv das beste Feature: Wie inzwischen bei einigen Kia-Modellen wird beim Blinken das Bild der jeweiligen Spiegelkamera ins Tachodisplay eingespielt, um den toten Winkel sichtbar zu machen. Auch das darf gerne von anderen Herstellern kopiert werden.
Ebenfalls zur Nachachmung empfohlen: Die gelungene Fahrwerksabstimmung. Komfortabel und doch mit der Portion Knackigkeit, die man aufgrund der sportlichen Form erwarten würde. Die Lenkung reagiert fein, nur der Wendekreis dürfte kleiner sein. Dafür ist die Abstimmung der Bremsen und dort vor allem der Übergang von Rekuperation zum tatsächlichen Bremsen sehr gut gelungen, das Pedalgefühl ist top. Ebenfalls sehr angenehm fällt die Geräuschdämmung auf. Bei Elektroautos hört man aufgrund des fehlenden Motorgeräuschs jedes Knarzen und Zischen. Im Kia hört man, dass man nichts hört, der der EV6 ist nicht nur sehr gut gedämmt, sondern auch hochwertig zusammengebaut.
Da überrascht es mich, dass ich vorne keinen säuberlich aufgeräumten Frunk à la Tesla vorfinde, sondern eine Pseudo-Motorabdeckung. Die könnte tatsächlich auch über einem klassischen Vierzylinder sitzen. Hier deckt sie den kleinen vorderen Kofferraum ab, der mit seinem bescheidenen Volumen wohl kaum mehr als die Ladekabel aufnehmen dürfte. Der hintere Kofferraum bietet mit mit 570 Liter etwa gleich viel Raum wie die Konkurrenz in Form von Skoda Enyaq (580) oder Tesla Model Y (ca. 600). Die beiden ragen mit 6 Zentimetern deutlich höher auf, sind aber ähnlich breit.
Preislich beginnt der EV6 bei attraktiven 49’950 Franken, dann hat man aber den „kleinen“ Akku (58 kWh) an Bord. Darum werden sich die allermeisten Kund*innen wohl für die Edition 24 entscheiden. Dort ist dann für 59’780 alles ausser das Schiebedach mit dabei. Und ja, der grosse Akku gehört zu diesem Angebot ebenso dazu wie die 7 Jahre Garantie, die auch auf die Batterie gelten. Für sie gilt allerdings zusätzlich die Einschränkung von 150’000 km; trotzdem eine gute Absicherung für Elektrozweifler.
Überhaupt könnte der Kia EV6 so manchen überzeugen, der sich bis jetzt noch nicht mit der Idee anfreunden konnte, das Auto künftig zu laden anstatt zu tanken. Das dynamische und eigenständige Design aussen kommt gut an. Die praxistaugliche Reichweite lässt die Range Anxiety vergessen. Ein trotz Touchscreen überzeugendes Bedienkonzept vermindert Ablenkung. Gute Detailideen wie die Totwinkelkamera bringen weitere Pluspunkte. Fairer Preis, lange Garantie und vollständige Ausstattung gefallen den Sparfüchsen. Und wer sich immer noch nicht überzeugen lässt, wählt den Drive Mode „Sport“ und fährt seine Hausstrecke damit.