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zuendung

5. September 2013

unerschütterlich

Mercedes-Benz | 0 Kommentare

Dieses Klonkgeräusch, mit dem die grosse silberfarbene Türe ins Schloss fällt: Es ist der Mercedes unter den Tönen. Es ist die letzte Zeile eines Gedichts, der letzte Paukenschlag eines Liedes – das zufriedene Bäuerchen eines sattgegessenen Säuglings! Es ist der Künstler, der zurücksteht und sein vollendetes Werk betrachtet, es ist feuerverzinkt und schwer wie ein […]

Dieses Klonkgeräusch, mit dem die grosse silberfarbene Türe ins Schloss fällt: Es ist der Mercedes unter den Tönen. Es ist die letzte Zeile eines Gedichts, der letzte Paukenschlag eines Liedes – das zufriedene Bäuerchen eines sattgegessenen Säuglings! Es ist der Künstler, der zurücksteht und sein vollendetes Werk betrachtet, es ist feuerverzinkt und schwer wie ein Stück Schweizer Armee. Es klingt wie „fertig!“. Der Wagen ist bereit, bereit für die Ewigkeit.

Nicht dass das Schwäbische Blech vom Rostfrass verschont worden wäre. Wie die meisten anderen Zeitgenossen musste auch unser Testwagen zwischendurch in die Verjüngungskur zum Schweissen und Neulackieren. 1957 in Untertürkheim auf die Welt gekommen, scheint er aber nach wie vor aus einem Guss zu sein. Auf Nebenstrassen, ganz im Standard der 1950er Jahre nicht mit Asphalt befestigt, liegt der kleine Benz satt, poltert nicht, giert nicht und läuft unbeeindruckt von Stolpersteinen und Vertiefungen geradeaus. „Wertigkeit“ nenne man das, beteuert ein Mercedes-Verständiger in einem spontanen Parkplatzgespräch.

Geradezu häufig – trotz unauffälliger Silberfarbe – sprechen einen Passanten auf den betagten Roadster an. Jemand steuert seinen brandneuen SL 65 AMG auf gleiche Höhe und freut sich über den Urahn. Jemand anderes hält den unsrigen SL sogar für einen 300er, obwohl letzterer für genau den zehnfachen Betrag des kleinen Bruders gehandelt wird. Vom einst angekratzten Ruf des 190er scheint keine Spur mehr zu sein. Umso befreiter lassen wir die Tage hinter dem Lenkrad auf uns wirken.

Und das gelingt ganz entspannt, die Lenkung geht leicht; zwei Finger am grossen Lenkrad erledigen die meisten Manöver ohne Anstrengung. Ein nettes Detail: Den Chromring im Lenkrad in Abbiegerichtung drehen schaltet den Blinker ein. So bleiben die Hände immer bequem an derselben Stelle. Mit erstaunlich wenig Aufwand lassen sich die vier Gänge wechseln. Das Getriebe ist – damals fortschrittlich – vollsynchronisiert. Es macht Freude, für fast alle Vorgänge darf man Chrom berühren.

Wie Späheraugen ragen Drehzahlmesser und Tachometer aus dem Armaturenbrett. Darunter wie bei grossen Vorbild – dem 300 SL mit Flügeltüren – die kleinen Uhren für Wasser, Öl und Benzinvorrat. Der Hebel mit der Lichthupe links von der Lenksäule war aufpreispflichtig, wie auch die auf Daimlerdeutsch „Starktonhorn“ und im chromumrandeten Kühllufteinlass gut sichtbaren Zusatzhupen heissen. Sie klingen etwas verschlafen, jedoch gerade unwiderstehlich von der guten alten Zeit, dass sich manche Köpfe erfreut umdrehen. Beifahrerinnen sollten sich übrigens warm anziehen und – wie einst – ein Kopftuch umbinden. Die steile und doch niedrige Frontscheibe hält den Wind kaum mehr als eine grössere Sonnenbrille fern. Tempi über 60 verwöhnen mit dem vollen Roadstererlebnis.

Über 80 schmälert den Spass aber bald, es zieht stark – und der Motor ist arg gefordert. Der kleine Benz liegt zwar satt auf der Strasse, Kurven nimmt er rassig. Einzig gröbere Lastwechsel überforden die hintere Pendelachse und verlangen nach rascher Lenkarbeit. Im Vergleich zu Zeitgenossen aus England oder Italien etwa gleitet unser Schwabe ohne Knacks- und Reibgeräusche über dürftig gepflegte Nebenstrassen. Mit knapp 1200 kg Leergewicht ist er auch um einiges schwerer. Mehr Material, höhere Steifigkeit. Ein Punkt aber, der sich nicht länger aufschieben lässt, sind die mageren 190 Kubikdezimeter, die dem Wagen den Namensteil verleihen. Zwei doppelte Solex Registervergaser beatmen den Vierzylinder auf 105 PS. Zum Gleiten reicht die Kraft aus, über 3000 Umdrehungen jedoch vibriert es unangenehm, und tönt nach Nutzfahrzeug. Erst später, im 230 SL wuchs die Maschine mit obenliegender Nockenwelle um zwei Zylinder, Benzineinspritzung und die nötige Portion Schub. Vielleicht mit ein Grund, warum der 190 SL lange als Frauenauto belächelt wurde. Schade eigentlich.

Herzlichen Dank an Besitzer Heinz, der den Wagen seit Jahrzehnten besitzt und liebevoll restauriert hat.