Ab dem 1.1.2025 wird insbesondere das absichtliche Verursachen von Knallgeräuschen mit dem Auspuff in Form von Bussen bestraft. Da passt es ganz gut, dass das erste Testauto im neuen Jahr ein elektrisch angetriebener Wagen ist. Knallgeräusche verursacht man mit diesem Cadillac also höchstens mit den Türen. Doch jene bei einem so noblen Auto einfach zuzuwerfen, nein, das würde man sich gar nicht getrauen. Nobel ist auch der Abholort: Unter den Edelboutiquen von Globus und dem scheidenden Jelmoli nehme ich den rot glänzenden Fünftürer in unmittelbarer Nähe des City Store in Empfang. Nach längerer Absenz sind die US-Amerikaner auf dem Schweizer Markt wieder gestartet und präsentieren sich an bester Lage, nämlich an der Zürcher Bahnhofstrasse. Neben Autos gibt es dort auch einen tollen Espresso. Doch zurück zu den Fahrzeugen: Escalade, Limousinen und SUV sind für den Moment passé, stattdessen besteht das Portfolio nur aus einem einzigen Elektroauto – dem Cadillac Lyriq, dem Vorboten einer neuen Epoche bei der Traditionsmarke.

Spektakulär: Wie der Innenraum mit seinen edlen Materialien, so auch der Abholort tief unter dem Globus Zürich
Der Lyriq ist eine Art Crossover, ein hochgelegter Fliessheckkombi, der sich ziemlich in die Länge zieht. Auf 5,005 Meter, um genau zu sein. Und auch die Breite ist mit 1,98 Meter nicht gerade knapp ausgefallen. Was man auf diesem gerüttelten Mass an Verkehrsfläche designtechnisch angestellt hat, verdient unsere Aufmerksamkeit. Nur schon, weil mit Magalie Debellis eine Französin für die äussere Form mitverantwortlich war. Im Innenraum trug mit Crystal Windham ebenfalls eine Frau entscheidend zu Gestaltung bei. Doch schauen wir uns zunächst die äussere Hülle an.

Schön oder hässlich? Eigenständig ist der Cadillac Lyriq definitiv
Der dominante Grill an der Front ist komplett geschlossen. Die angedeutete Struktur der seitlichen Streben wäre beleuchtet, das Logo und der Grillumriss ebenso. Wäre? Ja, die Behörden erlauben hier die illuminierte Version noch nicht. Doch auch so ist die Show der LEDs eindrücklich. Das führt uns direkt auf die Flanken, wo weit nach vorne gezogene Leuchten in der Form eines Bumerangs bis in die Spitze der C-Säule reichen. Sie begrüssen einen bei Annäherung mit fliessenden orangem Aufleuchten. Das Heck wird von einer Art Glaskuppel abgeschlossen, das von der Seite betrachtet vielleicht sogar an den legendären Jensen Interceptor erinnern mag. Die 21-Zöller mit dunklen Akzenten gehören ebenso zur Sport-Variante wie die dunkelgrauen Zierleisten um die Fenster. Am etwas zerklüfteten Heck fällt das silberne Cadillac-Logo auf, das auch als Heckdeckelöffner dient. Die senkrechten Leuchten unten erinnern an die Finnen der 50er-Jahre. Definitiv ein Design, das auffällt. Ob es auch den europäischen Geschmack trifft? Mir gefällt es, weil es sich von der Masse abhebt und klar die neue Cadillac-Linie transportiert.

American Way of Drive: Sofort als Cadillac zu erkennen, ist der Lyriq doch etwas gänzlich Neues
Also eingestiegen in den grosszügigen Innenraum, wo der Blick auf einen riesigen Screen fällt. Dieser Tage ist dieser Anblick keiner, der sehr ungewöhnlich wäre. Und doch hat man bei den US-Amerikanern auf ein paar spezielle Lösungen zurückgegriffen. Ganz links auf dem Bildschirm, also sehr nahe der linken Lenkradhand, wählt man per Touch den Bildschirmmodus, die Einstellungen für das Licht und die Tripanzeige. Ein HeadUp-Display gibt es im Lyriq nicht, obwohl die Marke schon seit 2003 mit der Technik vertraut ist. Dafür können via HeadUp-Technik rote Punkte zu Warnzwecken in die Windschutzscheibe gespiegelt werden. Dass die Multimediaeinheit Apple CarPlay kabellos beherrscht, überrascht nicht. Dass man beim Sprachassistenten auf Google built-in vertraut, vielleicht schon eher. Das Kommando heisst hier also nicht „hey Lyriq“ oder „hey Cadillac“, sondern „hey Google“. Die Bedienung der Klimaanlage erfolgt klassisch über Tasten, die Lautstärke lässt sich über eine Walze auf der Mittelkonsole verstellen. Dort findet man auch einen Controller, der wie bei BMW iDrive die Funktionen auf dem Screen steuern kann. Schön, dass man im Lyriq die Wahl hat und wichtige Funktionen direkt über physische Bedienelemente zu erreichen sind.
Den Wählhebel findet man an der Lenksäule. Im Gegensatz zu anderen Elektroautos, muss ich hier aber zuerst noch den Powerknopf drücken. Dann stromert der grosse Crossover sanft los. In der ersten Kurve erwischt mich die sehr indirekt übersetzte Lenkung beinahe. Kurbeln ist angesagt. Überhaupt animiert das Interieur zum Gleiten. Die Sitze sind bequem aber gerade im Schulterbereich sehr breit ausgelegt. Die Materialauswahl ist hochwertig und mancherorts auch ausgefallen. So gefällt mir das mit blauem Leder ausgelegte Ablagefach in der Fahrzeugmitte sehr gut. Eine Reminiszenz an alte Autoradios sind die runden, herrlich rastenden Verstellräder für die Lüftungsdüsen.
Wer selber düsen möchte, dem helfen die 528 PS für eine flotte Gangart. Bei durchgedrücktem Strompedal reagiert der Caddy mit sehr rasanter Beschleunigung, auch wenn man bereits mit 100 km/h unterwegs ist. Die Vehemenz mag angesichts des bestens gedämmten Innenraums überraschen, daher warnt man Mitfahrende besser vor. Auch durch Kurven geht der Fünfmeter-Koloss (fast 2,8 Tonnen Leergewicht) nämlich ebenfalls erstaunlich dynamisch. Das Gewicht bleibt aber spürbar und die indirekt übersetzte Lenkung zwingt einen zur entsprechenden Arbeit. Etwas zu arbeitswillig zeigt sich der Notbremsassistent, der zwei Mal – für mein Gefühl zu früh – eine Nothalt initiiert. Ich habe die Funktion dann auf blosses Warnen umgestellt. Die anderen Assistenten zeigen sich zuverlässig und intuitiv bedienbar.

Fahrvergnügen: Fahren macht Spass, die Lenkung dürfte direkter übersetzt sein
Das Bremsen funktioniert bestens. Der One-Pedal-Modus verzögert bereits gut und lässt sich sogar noch auf „stark“ stellen, womit man dann die stärkste automatische Rekuperation hat, die ich je in eine Elektroauto erlebt habe. Alternativ lässt sich mit dem Lyriq aber auch Segeln. Wenn es dann etwas „Motorbremse“ braucht, zieht man einfach am Rekuperationspaddel an der linken Lenkradspeiche. Eine sehr gute Lösung, die einem die Entscheidung komplett offen lässt, wie man nun fahren möchte (nicht wie z.B. bei den Produkten aus dem VW-Konzern).
Keine grosse Auswahl gibt’s bei der Ausstattung. Bei uns wird nur die Variante „volle Hütte“ angeboten. Dazu kommt bei unserem Testexemplar nur noch die Radiant Red genannte Farbe für 1950 und das Panoramaschiebedach für 2000 Franken. Wer die noch edlere Innenausstattung mit Nappaleder möchte, zahlt 3000 Franken. So landen wird dann bei 90’150 Franken, was für die Ausmasse und all die Features absolut im Rahmen erscheint. Einen neuen Cadillac Lyriq gibt’s ab 83’500 Franken, wobei die Lieferfrist erfreulich kurz sein dürfte.

Skitransporter: Mit Ski, Sack und Pack ist der Lyriq nicht überfordert
Kurz sind auch die Aufenthalte an den Schnellladestationen, mit bis zu 190 Kilowatt wird geladen. Trotzdem: Das können andere Elektroautos noch deutlich schneller. Positiv zu bewerten ist dagegen die Wechselstromladeleistung, die bei maximal 22 kW liegt. Bei winterlichen Bedingungen mit Temperaturen im Minusbereich wurden auf 100 Kilometer 30,2 kWh konsumiert. Somit läge die Reichweite unter diesen Umständen bei nur etwa 300 Kilometer. Ich gehe aber davon aus, dass bei milderem Wetter deutlich mehr drin wäre.
Etwas mehr wäre aus meiner Sicht unter der Fronthaube dringelegen. Gemeint ist nicht wie einst ein paar mehr Liter Hubraum, sondern selbige in Gepäckvolumen. Einen sogenannten Frunk gibt es nämlich nicht, obwohl der Vorderwagen recht mächtig ausfällt. Hinten warten gute 588 Liter an Gepäckraum, dazu Unterbodenfächer für die Kabeltasche. Die Klappe öffnet automatisch und auf die inzwischen bekannte Geste per Fuss. Der entsprechende Sensorbereich ist mit einem auf den Boden gestrahlten Cadillac-Logo markiert.

Dynamisch: Eher Crossover als SUV, oder?
Ein wahres Sonderangebot in der Liste der Fünf-Meter-SUV mit Premiumanspruch markiert der Cadillac Lyriq sowieso: BMW iX und Mercedes EQE SUV liegen preislich bereits ohne Optionen höher. Einen vergleichbaren Polestar 3 oder Audi Q8 e-tron bekommt man mit ähnlicher Ausstatung ebenfalls nicht für weniger Geld. Der Preis ist für mich dann auch das Hauptargument, warum man sich den Lyriq trotz etwas Übergrösse definitiv etwas genauer anschauen sollte. Daneben begeistert er mit eigenständigem Design, bequemen Massagesitzen, komfortablem Fahrwerk und massig Punch. Ausserdem hat mich das Audiosystem von AKG (mit Lautsprechern in den Kopfstützen) ebenso überzeugt wie die Bedienung via Touchscreen, Controller oder Stimme. Ein absolutes Highlight sind die animierten LED-Elemente – eine Spielerei, an der ich mich kaum sattsehen kann.

Business: Auch im geschäftigen Zürich wirkt der Lyriq passend
Auch nach fast 1000 Kilometer noch etwas nervig: Die Kurbelei am Lenkrad. Dafür ist der verhältnismässige kleine Wendekreis von 12 Meter ohne Hinterradlenkung ein guter Wert, der auch Parkhäusern den Schrecken nimmt. Überhaupt funkioniert der Caddy im Alltag so gut, dass man sich gerne an ihn gewöhnt. Und wenn draussen die altmodischen Verbrenner mal wieder knallen, schützt einen die Doppelverglasung vor akustischer Unbill.