Was für ein Zufall: Für die Fahrt zum Ski-Saisonende ins Engadin kommt der brandneue Audi S6 e-tron wie gerufen. Natürlich als Kombi, der bei Audi noch immer Avant heissen darf. Schön, dass man sich für eine echte Farbe entschieden hat. Malpeloblau metallic würde ich am ehesten als Petrol beschreiben. Kurz nach der Umstellung auf Sommerzeit wurden auch die entsprechenden Reifen aufgezogen. Doch kein Problem, auch auf Sommergummis ist das Hochtal im Südosten der Schweiz gut erreichbar, denn das Wetter zeigt sich wunderbar frühlingshaft. Mit Niederschlägen ist nicht zu rechnen. Also Skis in den Laderaum und Gepäck fürs Weekend ebenso. Dazu lade ich den Akku auf 100%.

Gross: Im Stadtverkehr werden die Dimensionen des S6 e-tron deutlich (hier aus einem Rover Mini geknipst)
100%, das sind beim S6 100 kWh brutto, wobei 94,9 kWh als effektiv nutzbare Kapazität angegeben werden. Weitere eindrückliche Zahlen gefällig? Voilà: 551 PS Leistung, 855 Nm Drehmoment, 270 kW maximale Ladeleistung. Ein Auto, wie gemacht für die etwas weitere Strecke einschliesslich schöner Kurvenfahrt über den Julierpass. Auf der Autobahn gibt es genügend Gelegenheit, den adaptiven Tempomaten zu testen. Und die Passstrasse sollte dann auch die Möglichkeit bieten, die Fähigkeiten der Dynamikabteilung zu bewerten. Die Vorfreude ist gross, die Route ins Navi einprogrammiert.

Gewöhnungssache: Die Hauptscheinwerfer unten, die Tagfahrlichter als Schlitze oben
Doch bevor es nun los geht, mache ich mich mit der Sitzposition und der Spiegeleinstellung vertraut. Das braucht hier etwas mehr Zeit, denn der Testwagen kommt mit der 1900-Franken-Option „Virtuelle Aussenspiegel“. Ähnlich wie man es von gewissen Lastwagenmodellen, ragen keine Spiegel, sondern nur noch Kameraarme über die Karosserie hinaus. Die Einstellung funktioniert derweil wie bei konventionellen Aussenspiegeln über das Panel links in der Fahrertür. Kleine Bildschirme etwas unterhalb der Seitenscheibe zeigen das Bild farbig und scharf an. Ungewohnt ist, dass sich die Perspektive nicht ändert, wenn man im Sitz umherrutscht oder den Kopf neigt. Daher muss die Einstellung wirklich passen.

Noch eine Gewöhnungssache: Das Fahren mit den Videospiegeln braucht Übung
Nun starte ich die Motoren, denn natürlich verfügt der S6 über den mit dem Modellnahmen quattro verbundenen Allradantrieb. Der Wählhebel wurde auch hier durch einen simplen Schieber auf dem Mittetunnel ersetzt. Geräuschlos stromere ich aus der Tiefgarage. Der Verkehr ist dich, trotzdem starte ich die adaptive Tempomatfunktion Audi-typisch über das kleine Hebelchen links am Lenkrad. Im HeadUp-Dislplay wird neben der vorgegebenen und er gewählten Geschwindigkeit auch jeweils das Fahrzeug markiert, zu welchem der eingestellte Abstand gehalten wird. Zieht ein anderer Verkehrsteilnehmer von der Nebenspur auf unsere, wird das vom System ebenfalls visuell kommuniziert. Elegant auch, wie das Blinken innen auf dem LED-Streifen unterhalb der Frontscheibe und direkt oben im betreffenden Spiegelbildschirm angezeigt wird. Dort wird auch gewarnt, wenn sich ein Fahrzeug im Toten Winkel befindet.
Je näher wir den Bergen kommen, desto dünner wird der Verkehr. Zum Glück. In Thusis ist dann schliesslich nur noch ein VW Up vor mir, den ich wenig später völlig ohne Anstrengung hinter mir lasse. Jetzt ist Zeit für „Dynamic“, die sportliche Einstellung des Audi Drive Select-Systems. Unnötigerweise wurde ihr auch ein entsprechender Sound angehängt. Wie ein schnaubender Stier keucht der Avant nun den Berg hinauf. Ich würde in den Wechsel in den Individual-Mode empfehlen, doch dort lässt sich die stärkere Rekuperation nicht dauerhaft fixieren. Also rede ich mir ein, das leicht nervige Geräusch klinge nach startendem Flugzeug und nicht nach Kuhherde.

Dynamisch: Das abfallende Heck kennzeichnet seit jeher die Avant-Kombis
Unabhängig von der Geräuschkulisse geht der S6 e-tron trotz 2,4 Tonnen Leergewicht ordentlich nach vorne. 3,9 Sekunden für den Sprint auf 100 km/h scheinen aber etwas optimistisch. Bei Vollstrom werden die Ziffern im HeadUp-Display grösser, sozusagen als Warnung vor dem unterschätzten Tempozuwachs. Das Luftfahrwerk ist jetzt auf Hart aber immer noch relativ Herzlich gepolt. Mitfahrende könnten sich aber ob den nun häufiger bis in den Innenraum dringenden Schläge stören. Eine hilfreiche Ablenkung könnte natürlich das Audiosystem bieten. Schliesslich klingt das Bang & Olufsen Premium-Soundsystem auch so, wie man es erwarten würde. Doch ok, ich halte mich zurück. Dass der Kombi über eine schön lineare Kraftenftaltung verfügt und dass er auch in engen Kurven gut zu platzieren ist, habe ich bereits bemerkt. Eine grosse Untersteuerneigung war nicht zu vernehmen. Nervig wie bei allen sportlichen Autos der Marke: Das Lenkrad ist so eckig, dass es den Namen „Rad“ kaum verdient.

Obligatorisch: Ein Bild auf der Passhöhe muss einfach sein
Auf der Passhöhe dann ein kurzer Stopp. Die einen auf der Toilette, die anderen an der Kamera. Kurz bevor es zu dunkel wird, lichte ich den hübschen Wagen ab. Gerade in der Seitenansicht erinnere ich mich daran, wie gross er tatsächlich ist. Über satte 4,92 Meter spannt sich die obere Mittelklasse von Audi mittlerweile. Die Breite von 1,92 Meter ist inzwischen fast normal geworden. Die Höhe fällt mit 1,49 Meter nur 2 Zentimeter höher aus als die des gerade vorgestellten Verbenner A6 Avant. Das führt mich zu einem Punkt, der bislang noch aussen vor blieb: Der Zustieg in den Innenraum ist für Menschen über 1,85 Meter ungemütlich. Fast wie bei einem Sportwagen müssen sie sich einfädeln. Ein Zugeständnis an den durch die Akkus höher liegenden Kabinenboden bei gleichzeitig niedrig gehaltener Dachlinie.

Beweisfoto: Dank hervorragendem Kamerasystem war auch die superenge Tiefgarage kein echtes Hindernis
Keine Frage, der Audi S6 Avant e-tron schaut modern und dynamisch aus. An die zweigeteilten Scheinwerfer vorne hat man sich inzwischen gewöhnt, zumal sie hier formschön umgesetzt wurden. Der untere Bereich ist glanzschwarz abgesetzt, was ihm eine aggressive Note verleiht. Hinten fällt das durchgezogene Leuchtenband mit den rot leuchtenden Audi-Ringen auf. Ebenfalls rot sind die Bremssättel, was aber selbst bei diesem Modell noch 460 Franken extra kostet. Man merkt, so langsam geht es dort hin, wo es weht tut: Zum Preis. Der S6 e-tron startet als Avant bei 106’850 Franken, der Testwagen kommt auf 127’981 Franken. Dass dann noch immer keine Massagesitze an Bord sind, oder dass der Wagen beim Weggehen mit Schlüssel nicht automatisch abschliesst, gibt zu denken.

Kann viel: Die Funktionsvielfalt ist riesig
Bedenkenlos kann man sich dagegen der elektrischen Fortbewegung im Allgemeinen und auch jener mit dem S6 e-tron im Speziellen anvertrauen. Mit 47% SoC (State of Charge) komme ich in Silvaplana an. Mit etwas Fussspitzengefühl würde es also sogar für die Rückfahrt nach Luzern reichen. Die Fortbewegung in Silvaplana funktioniert übrigens ebenfalls elektrisch, allerdings im Ortsbus hinüber zum Skiberg Corvatsch und mit der Seilbahn hinauf auf selbigen. Die Bedingungen sind perfekt, das Wetter und die Frühlingslaune sowieso.
Schade, dass ich zwei Tage später schon wieder die Reise ins Unterland antreten muss. Also wieder über die Passhöhe, hinunter nach Bivio. Dort steht ein bärtiger, bunt gekleideter Mann mit nach oben gerecktem Daumen am Strassenrand. Samt Tourenskis und Rucksack findet er Platz im Fond. Obwohl von der introvertierten Sorte, stellt er nach kurzer Zeit fest, noch nie ein Auto mit so moderner Innenausstattung gesehen zu haben. Neben den Spiegelscreens beeindruckt ihn vor allem das Beifahrerdisplay, wo die Co-Pilotin das Naviziel gleich selbst eingeben kann.

Sehr 2025: Leuchtendes Logo und durchgehendes Leuchtenband
Am Zürichsee sinkt der Akkustand auf 20%, was eine automatische Umschaltung in den Efficency-Plus-Modus zur Folge hat. Hier wird dann ein Maximaltempo von 90 km/h empfohlen, was sich aber problemlos übersteuern lässt. Also geht es an die Schnellladesäule, wo gemäss Navivorschlag schon 5 Minuten für den Weg nach Luzern ausreichen würden, damit man dort mit über 10% ankommt. Eindrücklich, wie der S6 e-tron praktisch sofort ein Ladetempo von 200 kW erreicht. Der CCS-Stecker findet sich übrigens links, während rechts noch ein zusätzlicher Typ-2-Anschluss sitzt. Das Kabel hierfür lässt sich gut im kleinen Frunk verstauen.

Schnee: Ja, auch im April kann man im Engadin noch Skifahren – und mit Sommerreifen hinauf fahren
Kurz vor Testende erhält der Audi S6 Avant e-tron den Ritterschlag. Die Beifahrerin eines Porsche 911 GT3 (ja, der mit dem Schwanenhalsspoiler) zeigt mit dem Daumen nach oben. Nein, sie will nicht mitgenommen werden. Vielmehr attestiert sie dem Kombi aus Ingolstadt, nicht nur effizient, sondern auch ziemlich cool zu sein. Das würde ich so unterschreiben, denn am Ende resultiert ein Durchschnittsverbrauch von 21,5 kWh auf 100 Kilometer in meinen Notizen. Deutlich über 400 Kilometer, bei wärmeren Temperaturen sicher über 500 oder gar an die 550 Kilometer Reichweite müssten drin liegen. Die Optik und Haptik stimmen. Sport kann der S6 ausreichend, Komfort richtig gut, die grosse Reise liegt ihm sowieso. Negativ ist der für grosse Menschen unbequeme Einstieg, die ausuferde Aufpreispolitik und der hohe Preis an sich. Und leider kann auch der auf der gemeinsam mit Porsche entwickelten PPE (Premium Platform Electric) kein One-Pedal. Da geht mein Daumen dann eindeutig nach unten.